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Sa, 4. Mai 2002
Zisch

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Lieber Simon,

du hast mir geschrieben, dass ihr in der Schule mit einer Schweigeminute der Ermordeten von Erfurt gedacht habt. Ein ehemaliger Gymnasiast hat an seiner Schule 16 Menschen und sich selbst erschossen. Warum tut das ein Mensch? Diese Frage lässt dich nicht mehr los. Du spürst, dass wir weit davon entfernt sind, eine richtige Antwort zu haben. Das ist schwer auszuhalten. Deshalb suchen wir nach Erklärungen.

Robert, der Täter, hat in einem Schützenverein schießen gelernt, durfte Waffen und Munition besitzen. Aber das machen viele andere auch und werden nicht gleich zum Mörder. Robert hatte Probleme in der Schule. Hey, denkst du jetzt, das schlechteste Zeugnis rechtfertigt nicht den Mord an 16 Menschen. Was ist eine schlechte Note im Vergleich zu einer guten Freundschaft! Robert hatte keine Freunde. Er war einsam.

Weißt du noch, wie du überlegt hast, das Fahrrad deines Freundes kaputtzumachen, weil der dich bei einer Fahrradtour im Stich gelassen hat? Stimmt, wendest du jetzt ein, aber Rachegedanken verrauchen auch wieder. Deswegen wird keiner zum Killer.

Robert beschäftigte sich viel mit brutalen Computerspielen. Komm mir bloß nicht damit, entgegnest du heftig. Von allen, die ich kenne, kommt keiner auf Idee, jemanden in echt abzuknallen. Je länger Kinder diese Spiele spielen, umso unüberwindbarer scheinen ihnen die Aufgaben, die ihnen das echte Leben stellt, sagen Fachleute. "Was soll eigentlich so eine Schweigeminute bewirken?", fragst du mich, "sie macht die Toten auch nicht mehr lebendig." Hast du eine bessere Idee, wie wir den Trauernden in Erfurt unser Mitgefühl zeigen können? Findest du nicht auch, dass das gemeinsame Tun das Unfassbare etwas weniger ohnmächtig macht? Auf deine Antwort bin ich gespannt.

Liebe Grüße deine Helga

Ressort: Zisch