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Frau Doktor auf der Schicksalswaage

  • Silvia Aliprandi

  • Do, 04. August 2005
    Zisch

     

Fernweh hat junge Autoren in alle Welt verschlagen: Silvia Aliprandi berichtet hier von einer kuriosen Begegnung in Indien.

Im Sommer ist ein verbreitetes und durchaus vergnügliches "Leiden" das Fernweh. Wer irgend kann, reist jetzt. Gerne ans Meer und am liebsten auch ganz weit weg. Ausgerechnet in Freiburg ist nun ein Projekt zu Hause, das sich kritisch mit dem Ferntourismus befasst. Sinnigerweise heißt das Projekt, das mit EU-Geldern finanziert ist, "FernWeh". Filme, Ausstellungen, Bücher und eine spannende Website sollen aufklären über die Möglichkeiten weitsichtigen Reisens. Auf einen wachen Blick kommt es den Machern dieses Projekts an. Und der war auch für einen Schreibwettbewerb gefragt, der "stories from paradise" hieß. Silvia Aliprandi war eine der Gewinnerin. Hier ist ihr Beitrag über eine kuriose Begegnung in Indien.

Koti, ein überfüllter Busbahnhof. Große grau-grüne Busse aus genietetem Blech, laut hupend machen sie sich den Weg frei. Menschen spritzen zur Seite, die Busse spucken wütend grau-blauen Qualm aus. Eine Frau, rosa gekleidet, rafft ihren Sari zusammen und läuft los, um noch auf einen anfahrenden Bus aufspringen zu können. Der Bus ist gestopft voll, der hintere Teil ist für Männer reserviert, sie stehen dicht gedrängt, drei Männer teilen sich die unterste Trittstufe.

Ich gehe auf die überdachte Wartehalle zu, zum Schutz vor der brütenden Mittagssonne und in der Hoffnung einen Sitzplatz auf einer der überfüllten Wartebänke zu bekommen. Sie sind jedoch alle besetzt, ich schaue mich um und will dem Beispiel einer jungen Frau folgen. Sie sitzt auf einer der beiden Waagen, große mannshohe Waagen mit drehenden Scheiben, silber-rot und weiß und aufleuchtenden Lampen. Gerade will ich mich hinsetzen, da steht ein älterer Herr auf und bietet mir seinen Sitzplatz auf der Bank an, wie freundlich. Ich bedanke mich und nehme mit einem kurzen Lächeln neben einer jungen Frau Platz. Ich behalte die ankommenden Busse im Auge.

Die Frau neben mir räuspert sich, wendet sich zu mir und fragt mich, auf was ich denn warten würde. Ich schaue in ihre kohlegeränderten schwarzen Augen.
"Bus No. 3 to Habsiguda." – "Ah, I see." Langes Schweigen, nervös spielt sie mit einem Geldstück in ihrer Hand. "Und du, worauf wartest du", frage ich zurück. "Auf meine Mutter", antwortet sie, "wir wollen einkaufen gehen." Sie lässt das Geldstück in ihre linke Handfläche klatschen. Klatsch, klatsch. Ja, darauf warte sie auch, sagt sie und weist mit einer ungenauen Handbewegung auf die Waage. Der Mann neben uns, der interessiert unserer Unterhaltung gelauscht hat, bietet ihr an, das Geldstück umzutauschen. "Nein, nein, ist nicht notwendig", bedankt sie sich freundlich bei dem Mann, sie habe es passend – und hält ihm wie zum Beweis ihr Geldstück hin.

Eigentlich wisse sie ja, wie viel sie wiege, wendet sie sich mir wieder zu, aber sie müsse noch warten. Ich verstehe nicht ganz, warum wiegen, wenn sie ihr Gewicht kennt und überhaupt, wozu denn warten, frage ich mich und sage laut und ermunternd zu ihr, sie solle sich doch jetzt wiegen. Sie zögert einen Moment, bleibt unentschlossen sitzen, doch dann schaut sie mich lächelnd an, drückt mir ihre Handtasche in den Schoß, ob ich denn kurz darauf aufpassen könne und geht zielstrebig auf die Waage zu.

"62 Kilo – heute wirst du

einen Tyrannen

erfolgreich besiegen."

Indische Frau in Koti
Die Frau bückt sich, zieht ihre Schuhe aus und stellt sich auf die Waage und wartet kurz, bevor sie die 1-Rupie-Münze einwirft. Die Waage rattert kurz, Lichter blinken auf und aus dem unteren Schlitz kommt eine kleine braune Karte zum Vorschein. Sie hält inne, schaut sie sich an und strahlt plötzlich über das ganze Gesicht. Sie kommt zurück zur Bank. Die zuvor etwas zurückhaltende Frau ist nun völlig aufgedreht und plappert aufgeregt: "Ja, es stimmt einfach immer!"

Aufgelöst nimmt sie wieder neben mir Platz. Ich schaue sie immer noch verständnislos an, sie drückt mir die Karte in die Hand: 62 kg – heute wirst du einen Tyrannen erfolgreich besiegen, lese ich. Ungeduldig nimmt sie mir mit zitternden Fingern die Karte wieder ab, es stimme immer, einfach immer, versichert sie mir erneut. Als ich immer noch nichts verstehe, erklärt sie mir, dass sie heute eine Auseinandersetzung mit ihrem Chef gehabt habe, ein wirklich fieser Typ; sie wollte heute früher frei bekommen, nachdem sie nun so viele Überstunden gemacht hatte und tatsächlich nach einigem Hin und Her hat er ihr heute wirklich früher frei gegeben.

Überglücklich, dass sich die Botschaft mal wieder bewahrheitet hat, erzählt sie mir, dass sie in der Software-Branche arbeite, sie habe sogar ihren Doktortitel. Ich bin überrascht, Doktortitel und Schicksalswaagen passen für mich überhaupt nicht zusammen und ich frage sie, ob sie täglich die Schicksalswaage benütze. Nein, nein nur zu bestimmten Anlässen , versichert sie mir.

Dann springt sie plötzlich auf, winkt aufgeregt einer älteren Frau zu, die am Ausgang des Busbahnhofes steht, dreht sich zu mir um, verabschiedet sich schnell, bevor ich sie fragen kann, was denn der heutige besondere Anlass war.

Folgende zwei Websites lohnen einen Besuch: http://www.trouble-in-paradise.de und http://www.iz3w.org/fernweh/

Und eine neue "FernWeh"-Broschüre informiert über Tsunami und Tourismus. Am Beispiel Südthailands beleuchtet diese Broschüre "Ready for Tourism?" den Ferntourismus und dessen Mitverantwortung am Ausmaß der Katastrophe sowie seine fragwürdige Rolle im Wiederaufbau. Die Broschüre stellt Informationen bereit und stößt Themen an, die bislang in der Debatte hierzulande unterrepräsentiert waren.
Die Broschüre wird vom FernWeh-Forum Tourismus & Kritik und dem Asienhaus Essen herausgegeben. Sie ist eine von vier Broschüren der Reihe "Fokus Asien " zu den Folgen des Tsunami in Süd- und Südostasien. Für eine Schutzgebühr von 3 Euro plus Porto kann sie über http://www.iz3w.org bestellt werden.

Ressort: Zisch

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