Kairo
Proteste gegen das verrottete Bildungswesen in Ägypten
Ägyptens Schulen sind überfüllt, die Lehrer miserabel bezahlt und demotiviert, im Unterricht regieren Prügelstock und stures Pauken. Aus Protest werden Klausurfragen vorab veröffentlicht.
Do, 23. Jun 2016, 7:59 Uhr
Ausland
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Seit Beginn des diesjährigen Zentralabiturs vor zwei Wochen liefern sich nun Online-Aktivisten und Erziehungsministerium ein beispielloses Katz-und-Maus-Spiel, welches – wie nie zuvor – die verrotteten und absurden Zustände in dem ägyptischen Bildungssystem enthüllt.
Prompt wurden ein Dutzend Mitarbeiter des Erziehungsministeriums verhaftet plus ein 18-jähriger Computerfreak, der im Fernsehen alles gestand, was man ihm vorwarf. Obendrein gab der Sprecher des Ministeriums wieder einmal die politische Standardformel zum Besten, die Muslimbrüder seien an allem schuld. Für die ägyptischen Behörden schien damit der Fall erledigt: die Täter verhaftet, die Hintermänner enttarnt. Doch die Leaks gingen munter weiter, als nächstes für Englisch, dann für Biologie, Physik, Statistik und Geographie. Sieben der insgesamt neun Klausuren wurden bisher verraten.
Kein Wunder, dass die Nerven blank liegen. Für die 570 000 Oberschüler und ihre Eltern sind die Thanaweya-Amma-Tests die schlimmste Phase der Schulzeit. Die Gesamtnote der Abschlussklausuren entscheidet, wer an einer staatlichen Universität studieren darf und – vor allem – wer einen Platz für die begehrten Fächer Medizin, Pharmazie oder Ingenieurwissenschaften ergattern kann. Immer weniger Familien können die exorbitanten Studiengebühren privater Universitäten aufbringen. Und so hängt das berufliche Schicksal ihrer Kinder vor allem von diesen drei Abiturwochen ab, die noch bis zum 28. Juni laufen.
Vor dem Erziehungsministerium kam es zu Demonstrationen entnervter Oberschüler, die nun Klausuren wiederholen müssen oder sich um den Lohn ihres wochenlangen Büffelns betrogen sehen. Andere lassen im Kampf um die Studienplätze ungeniert ihre Beziehungen spielen. Die Zeitung al-Shorouk berichtete, im oberägyptischen Assiut hätten 120 Söhne und Töchter von Polizeioffizieren, Militärs, Richtern und hohen Beamten in einem speziellen Schulgebäude schreiben dürfen, in dem es schon in den Vorjahren zu Massenschummeleien gekommen sei. Die Zeitung al-Bawaba zitierte Augenzeugen, in Minia, Assiut und Qena seien Lehrer sogar mit gezückten Pistolen bedroht worden, als sie Betrügereien des Regime-Nachwuchses unterbinden wollten.
So räumte Erziehungsminister al-Hilali al-Sherbini bei einer Fragestunde im Parlament zaghaft ein, dass die aus den sechziger Jahren stammende Pädagogik und Prüfungspraxis in Ägypten reformiert werden müsse. Als ersten Schritt schlug er vor, an den Klausurtagen das Internet im Land abzustellen und in den Prüfungssälen das Handynetz zu stören. "Was für eine absurde Idee", stöhnte Gamal Sheha, der Vorsitzende des Bildungsausschusses im Parlament. Die Mehrheit der Abgeordneten sei schockiert und empört über die Facebook-Leaks. Klausuren, Benotung und Zugangskriterien zur Universität aber seien völlig überholt. "Dieses System ist ein Relikt aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts", polterte Sheha. "Kein Land der Welt wendet es mehr an. Unser gesamtes Bildungssystem muss von Grund auf renoviert werden – und nicht nur die Abiturprüfungen."
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