Solidarität

Wie der Alltag türkischen Journalisten aussieht

"Tag der Autoren hinter Gittern": Aus diesem Anlass erinnert die BZ an verfolgte Journalisten in der Türkei. Die Redaktion der Cumhuriyet beschreibt, wie Kollegen verhaftet und drangsaliert werden.  

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Beschützenswertes Gut: die Zeitung Cumhuriyet   | Foto: AFP
Beschützenswertes Gut: die Zeitung Cumhuriyet Foto: AFP
Aus dem Strauß in seinen Händen zieht er rote Nelken heraus und legt auf jedem Schreibtisch der Nachrichtenredaktion eine nieder. "Ich bin ein alter Mitarbeiter der Cumhuriyet, für eure Moral habe ich Blumen mitgebracht", sagt er. Er verteilt still die Nelken und verschwindet. Derweil geht es in der Zentrale der Tageszeitung Cumhuriyet im Istanbuler Stadtteil Sisli wie in einem Bienennest zu. Es ist der 2. November 2016, der dritte Tag, nachdem 13 Journalisten und Manager von uns festgenommen worden sind. Wir Mitarbeiter versuchen, ruhig und gelassen zu bleiben. Es gilt eine Zeitung herauszubringen – egal, wie viele Kollegen inhaftiert sind. Wir haben keine Alternative, als unserem Beruf nachzugehen. Denn die Cumhuriyet ist eine Zeitung und hier arbeiten Journalisten.

Aber wir alle sind traurig und besorgt und rufen uns ins Gedächtnis, wie wir an jenem Tag getitelt haben: "Wir ergeben uns nicht." Von unseren festgenommenen Kollegen haben wir wegen des Ausnahmezustands, der nach dem Putschversuch vom 15. Juli ausgerufen wurde, nichts mehr gehört. Der Staatsanwalt hat eine Frist von fünf Tagen gesetzt, bevor sie einen Anwalt sprechen können. Jeder fragt sich dasselbe: Was soll jetzt passieren? Vielleicht sollten wir uns daran erinnern, was bereits passiert ist.

Was ist passiert?
Alles begann am Morgen des 31. Oktober 2016, mit dem Anruf unseres Chefredakteurs Murat Sabuncu. Morgens um sieben Uhr meldete er sich bei unserem Chef vom Dienst und sagte: "Mein Freund, sie nehmen mich mit." Die Polizei durchsuchte Murat Sabuncus Wohnung und nahm ihn fest. Seinem Anruf folgten bald weitere; unsere Telefone begannen, wie verrückt zu klingeln: Die Cumhuriyet-Journalisten Aydın Engin, Hikmet Çetinkaya und Hakan Kara, unser Ombudsmann Güray Öz, die Vorstandsmitglieder der Cumhuriyet-Stiftung Bülent Utku und Mustafa Kemal Güngör, unser ehemaliger Finanzverantwortlicher Bülent Yener und sein Nachfolger Günseli Özaltay, der Leiter unserer Buchbeilage Turhan Günay – sie alle wurden aus ihren Wohnungen geholt. Zudem wurde die Wohnung von Orhan Erinç, dem Vorsitzenden der Cumhuriyet-Stiftung, durchsucht.

Eine 93 Jahre alte Zeitung
Wir Mitarbeiter versammelten uns sofort in unserem "Haus". Schon in unseren ersten Gesprächen stellten wir fest, dass die Operation gegen die Cumhuriyet niemanden wirklich überrascht hatte. Weil die Regierung jeden, der ihr widerspricht, zum Schweigen bringen will. Darunter auch unsere Zeitung, wie wir seit längerem bezeugen können.

Doch den Gedanken, dass eine Zeitung wie die Cumhuriyet, bei deren Gründung vor 93 Jahren Mustafa Kemal Atatürk, der Gründer der Türkei, als Namensgeber Pate gestanden hatte; eine Zeitung, die in der Vergangenheit nach jedem Putsch verfolgt wurde, weil sie links ist; eine Zeitung, die für Demokratie, Laizismus, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Meinungsfreiheit stand – eine solche Zeitung derart unter Druck geraten würde, wollten wir nie aussprechen.

Die Vorwürfe gegen die Cumhuriyet
Der Grund unsere Freunde festzunehmen lautete: Mitglieder der Gülen-Organisation und der kurdischen Untergrundorganisation PKK zu sein und in deren Namen Straftaten begangen zu haben. In Wirklichkeit ist die Cumhuriyet eine der wenigen Zeitungen, die stets auf die Gefahr hingewiesen haben, dass die Gülen-Organisation Polizei und Justiz mit dem Ziel unterwandert, die Kontrolle über die Republik an sich zu reißen und die Türkei in einen islamischen Staat zu verwandeln. Zudem ist die Cumhuriyet eine der wenigen Zeitungen, die die Rechte der Kurden verteidigt, zugleich die PKK ständig kritisiert und jede Art von Terror ablehnt. Doch nun wird diese ganze Vergangenheit für nichtig erklärt und alle Schuld auf der Cumhuriyet abgeladen.

Angeklagter Staatsanwalt
Doch die Wahrheit hat eine Angewohnheit: Sie kommt ans Licht. So war es abermals ein Journalist, der aufdeckte, dass der Staatsanwalt, der die Ermittlungen gegen die Cumhuriyet geführt hatte, selber in einem Gülen-Prozess angeklagt ist. Die Tatsache, dass ein wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Organisation angeklagter Staatsanwalt die Ermittlungen geführt hatte, hätte das Verfahren gegen die Cumhuriyet eigentlich zusammenbrechen lassen müssen. So aber sprach der Justizminister bloß von einem "Missgeschick." Das Ministerium war nicht einmal auf die Idee gekommen, den Staatsanwalt von seinen Aufgaben zu entbinden.

Beschuldigt, Journalisten zu sein
Von unseren 13 Freunden, die am 5. November vor Gericht gebracht wurden, wurden vier unter Auflagen freigelassen. Dass sie gleich nach ihrer Freilassung nachts um 4 Uhr in die Zeitung kamen und dort von ihren wartenden Kollegen empfangen wurden, zeigt, wie sehr wir mit unserem Beruf verbunden sind.

Solidarität, was bist du schön
Am zehnten Tag konnten unsere Anwälte unsere inhaftierten Freunde besuchen. So erfuhren wir, wie deren größte Sorge lautete: Wie es uns und der Zeitung ergangen war. Und wir hatten bemerkenswerte Tage erlebt. Kaum, dass die Nachricht über die Operation gegen uns bekannt geworden war, strömten Menschen zu unserer Zentrale in Istanbul und unserem Büro in Ankara: Politiker, Akademiker, Gewerkschafter, zivilgesellschaftliche Verbände, Studenten, Journalisten, Künstler, Berufskammern, Medien aus aller Welt, internationale Journalistenverbände, und – was am wichtigsten ist – unsere Leser. Alte, Kinder, Frauen, Männer... Diese Besuche gehen ununterbrochen weiter. Die Besucher schultern unsere Trauer und hinterlassen uns ihre Hoffnung.

Nur eines fehlt uns
Nur eine Garantie fehlt uns: die Pressefreiheit. Wir Bürger dieses Landes brauchen die Meinungs- und Pressefreiheit, die für jedes demokratische Land unverzichtbar ist. Um in Ruhe unserer Arbeit nachgehen zu können, müssen wir einfach nur Journalisten bleiben. Wir müssen für jene eine Stimme sein, die keine haben, wir müssen die Tatsachen berichten und aufschreiben. Unsere Arbeit ist schwer, der Druck ist groß, die Bedrohung ernst. Aber nichts davon wird uns abhalten. Die Nachricht unseres Chefredakteurs Murat Sabuncu, die er aus der Haft geschickt und damit unsere Augen mit Tränen gefüllt hat, ist eigentlich der Grundsatz von jedem, der bei der Cumhuriyet arbeitet: "Wir werden uns nur unserem Volk und unseren Lesern beugen."

Übersetzt wurde der Text von Timur Tinç und Deniz Yücel.

Deutsche Zeitungen üben Solidarität

In Deutschland veröffentlichen zahlreiche Medien aus Solidarität mit den verfolgten Journalisten in der Türkei den Beitrag der Cumhuriyet. Hier eine kleine Auswahl der nationalen und regionalen Medien:

Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung, F.A.Z. Net, taz, Die Welt, Handelsblatt, Zeit Online, Spiegel Online, Stuttgarter Zeitung, WAZ, Westfalen Post, Westfälische Rundschau, Hamburger Abendblatt, Berliner Morgenpost, Braunschweiger Zeitung, Thüringer Allgemeine, Wiesbadener Kurier, Darmstädter Echo, Gießener Anzeiger, Kölner Stadtanzeiger, Weser-Kurier, Mitteldeutsche Zeitung, Redaktionsnetzwerk Deutschland (darunter Hannoversche Allgemeine, Leipziger Volkszeitung, Märkische Allgemeine, Lübecker Nachrichten, Ostsee-Zeitung).

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