Medizin
Gefährliches Steak: Manche reagieren allergisch auf Fleisch
Rötungen, Juckreiz, Atemnot – im schlimmsten Fall droht der Tod: Manche Menschen reagieren allergisch auf Fleisch. Wissenschaftler vermuten Zeckenbisse als eine Ursache.
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Es begann schleichend mit den Symptomen der sogenannten Nesselsucht: Irgendwann nach einem Essen rötet sich Markwalds Haut. Mal nur ein wenig, mal richtig heftig, mal gar nicht. Ein Juckreiz an Armen und Beinen kommt hinzu, Woche für Woche scheint er heftiger zu reagieren. Plötzlich bilden sich spät am Abend große, dick zu tastende Rötungen am ganzen Körper, die Haut juckt unerträglich, er ist müde, bekommt schlecht Luft. Das wiederholt sich immer öfter, zweimal kippt er im Bad einfach um. Schnell haben er und die ratlosen Ärzte in den Notfallaufnahmen, in denen er immer öfter landet, den Verdacht, dass er ein Lebensmittel nicht verträgt. Nur welches?
"Das ist schon deutlich mehr als ein bisschen Heuschnupfen", sagt Thilo Jakob, Direktor der Klinik für Dermatologie und Allergologie am Universitätsklinikum Giessen, zu den Symptomen, die eine Fleischallergie auslöst. "Betroffene bekommen je nach Ausprägung der Allergie einen intensiven Hautausschlag, Atemnot, der Blutdruck fällt ab bis hin zu einem anaphylaktischen Schock, der tödlich enden kann." Dass Fleisch diese Wirkungen auf manche Menschen haben kann, beobachteten Allergologen schon länger, seit 2009 sind die Symptome und Fälle wissenschaftlich beschrieben.
Lange allerdings standen die Wissenschaftler vor dem Rätsel, wieso Fleisch von Rind, Schwein, Wild oder Lamm zu heftigen Reaktionen führt, während Puten- und Hähnchenfleisch von den vermeintlich allergischen Patienten problemlos vertragen wird, ebenso Fisch. Das passte nicht zusammen. "Man ist die ganze Zeit davon ausgegangen, dass es wie bei den meisten anderen Nahrungsmitteln Proteine sind, die die Allergie auslösen, und hat sich damit zufrieden gegeben ", erklärt Jakob. Der wahre Auslöser ist jedoch ein Zuckermolekül, wie amerikanischen Wissenschaftler herausgefunden haben. Dieses Molekül hört auf den schönen Namen Galactose-alpha-1,3-galactose, kurz alpha-Gal, und ist verantwortlich dafür, dass Hermann Markwald zu seiner eigenen Sicherheit nie wieder rotes Fleisch essen darf.
Alpha-Gal kommt in fast allen Säugetieren vor. Nur Primaten haben irgendwann im Laufe der Evolution das Enzym verloren, das bei anderen Wirbeltieren dafür sorgt, dass dieser Zucker auf Eiweißmoleküle gebaut wird. Essen wir also Fleisch, erkennt unser Immunsystem das alpha-Gal als fremd und bildet entsprechend Antikörper, die Immunglobuline G, kurz IgG. Bei den allermeisten verläuft diese Immunreaktion ohne Symptome. Einige Menschen aber bilden den vor allem für Allergien verantwortlichen Antikörper Immunglobulin E, kurz IgE. "Wir wissen bisher nur, dass das so ist, können aber nicht erklären, warum", sagt der Allergologe Jakob.
Einen Hauptverdächtigen für das Warum haben Scott Commins und Thomas Platts-Mills von der amerikanischen University of Virginia ausgemacht. Ihnen fiel auf, dass in den USA in Gegenden, in denen gehäuft Zeckenbisse der Art Amblyomma americanum vorkamen, auch gehäuft über Fälle von Fleischallergie berichtet worden ist. Zudem erinnerten sich viele Betroffene tatsächlich, dass sie vor ihrer plötzlich auftauchenden Allergie von einer Zecke gebissen worden seien. "Nun geht man davon aus, dass sich im Zeckenspeichel eine Substanz befindet, die die Immunantwort so verändert, dass IgE Antikörper gegen alpha-Gal gebildet werden", erklärt Jakob. Isst ein derart sensibilisierter Mensch dann Fleisch, das das Zuckermolekül enthält, schießt das Immunsystem über – er reagiert allergisch. Was das für eine Substanz im Zeckenspeichel sein könnte? "Keine Ahnung, das gilt es ja jetzt erst einmal herauszufinden", sagt Jakob.
Auch Hermann Markwald kann sich an einige Zeckenbisse erinnern. Er ist viel draußen in der Natur, und das Spinnentier fühlt sich wohl im Schwarzwald. Eine Verbindung zwischen den kleinen Schmarotzern und seiner schlimmer werdenden Allergie hat nie jemand gesehen – weil keiner von einem potentiellen Zusammenhang wusste. Statt dessen experimentierte Markwald zunächst selber herum, ließ mal dieses, mal jenes Lebensmittel weg, hatte erst rote Früchte in Verdacht und kam dann recht schnell auf Fleisch als Ursache seiner Leiden. Er fuhr zur Abklärung der Diagnose in die Haut- und Allergieklinik auf Norderney, unterzog sich dort allerlei Tests und bekam attestiert: alles prima, keinerlei Lebensmittelallergie vorhanden. Wieder zu Hause, plagte er sich weiter viele Jahre mit den unerklärlichen Vorgängen seines Körpers: Wieso konnte er Hühnersuppe essen, ein Schnitzel nicht? Und warum landete er nach dem Genuss eines gänzlich fleischlosen Flans nachts in der Notaufnahme irgendwo in Südfrankreich? "Dann habe ich im vergangenen Jahr von alpha-Gal und der Zecke gelesen, mich testen lassen, und plötzlich war alles klar", erzählt Markwald.
Dabei ist noch nicht einmal eindeutig geklärt, ob es tatsächlich die Zecke ist, die mit ihrem Biss Menschen zum Fastvegetariertum verdonnert. Die Gattung Amblyomma gehört zur Familie der Schildzecken, deren Mitglieder wiederum sind weltweit verbreitet. Auch aus Australien, Spanien, Frankreich und Deutschland werden mehr und mehr Fälle von Fleischallergie bekannt, oft, aber nicht immer im Zusammenhang mit Zeckenbissen. "Trotzdem können wir beinahe von einer Täterüberführung sprechen", sagt der Allergologe Tilo Biedermann, der zunächst an der Universität Tübingen und dann an der Technischen Universität München rund 70 Patienten mit Fleischallergie betreut hat. Es sei durchaus vorstellbar, dass Zecken und andere Insekten bereits eine gehörige Portion alpha-Gal im Speichel hätten. Bei einem Biss oder Stich könnte der Mensch dadurch quasi eine Überdosis an alpha-Gal erhalten, und eine Menge Antikörper IgE würden produziert. Allerdings ist das bisher noch überwiegend Theorie. "Die Beweisführung ist hier wie oft in der Medizin lückenhaft", sagt Biedermann.
Zweifel an der reinen Zeckenbisstheorie werden auch durch Untersuchungen in Afrika geweckt: In einer 2011 im Journal of Allergy and Clinical Immunology erschienenen Arbeit wurde gezeigt, dass afrikanische Patienten mit vermehrten Wurm- und Parasiteninfektionen häufig Antikörper IgE im Blut haben – Allergien auf Fleisch waren allerdings nicht bekannt. Das legt den Verdacht nahe, dass zumindest ein weiterer Faktor neben dem Zeckenspeichel eine wichtige Rolle spielen könnte.
Erschwert wird die Suche nach der Allergieursache vor allem durch die geringen Fallzahlen. In Deutschland sind es derzeit gerade mal 200 bis 300 Patienten, die positiv auf die Fleischallergie getestet worden sind, schätzt Biedermann, Tendenz weiter steigend. Der Allergologe geht von einer hohen Dunkelziffer aus. Seine und die Mission seines Teams lautet daher: das Krankheitsbild publik machen. Oft würden Ärzte unter ihren Patienten potentielle Fleischallergiker entdecken, sobald sie für die Thematik sensibilisiert worden sind. Ist der Verdacht erst einmal da, kann er schnell verifiziert werden: "Wir haben jetzt einen phantastischen Bluttest, mit dem sich ganz einfach untersuchen lässt, ob jemand betroffen ist oder nicht", sagt Biedermann.
Dass bei so wenigen Menschen eine Allergie auf Steaks und Hamburger nachgewiesen wird, liegt auch in der Schwierigkeit der Anfangsdiagnose begründet. Denn obwohl die Fleischallergie zu den sogenannten Soforttypallergien gehört, tritt bei diesem Krankheitsbild die Allergie erst verzögert nach etwa vier bis sechs Stunden auf. "Vermutlich muss das alpha-Gal erst freiverdaut werden", erklärt Biedermann. Die verspätete Reaktion auf das Allergen sorgt dafür, dass sowohl die Betroffenen selbst als auch der behandelnde Arzt lange keinen Zusammenhang sehen zwischen dem Fleischgenuss und den Symptomen. "Der Klassiker: Jemand wacht nachts um 2 Uhr auf, es geht ihm nicht gut, er hat juckenden Hautausschlag. Vor ein paar Jahren war das noch eine Black Box für uns, inzwischen wissen wir, dass wir dann nach dem Abendessen fragen. Und siehe da: ein Schweinebraten", sagt Biedermann.
Therapiert wird die Fleischallergie mit dem, was für die Betroffenen meist am schlimmsten ist: der Vermeidung. Da aber nicht jeder Fleischallergiker in gleicher Intensität reagiert, versuchen Biedermann und Kollegen, mit Provokationstests das persönliche Risikopotential eines Patienten einzuschätzen. Manch einer verträgt zum Beispiel durchaus noch ein Schnitzel oder Steak, aber keine Innereien mehr. "Die Innereien verbieten wir allen Patienten, die sind offensichtlich voll mit alpha-Gal", erklärt Biedermann.
Zu denen, die wegen der enthaltenen Gelatine nicht einmal mehr Gummibärchen essen können, gehört Hermann Markwald. Er reagiert auch hoch sensibel auf Fleischsäfte, muss sich bei Soßen und Nachspeisen in Acht nehmen. Auch als eine Freundin mal eigens für ihn eine Ecke der Quiche Lorraine speckfrei gelassen hatte, meldete sich die Allergie – wahrscheinlich war Specksaft beim Backen in die "saubere" Region gelangt. "Zu Hause sind wir ziemlich routiniert, meine Frau kocht nur noch Fisch und Geflügel, aber ein Besuch im Restaurant kann böse enden, wenn ich nicht sehr vorsichtig bin", erzählt der Pensionär, der auswärts nur noch vegetarische Gerichte bestellt. Doch selbst dann ist er nicht gänzlich sicher. Alpha-Gal kommt auch in Milch vor, weshalb für besonders empfindliche Allergiker wie Markwald auch hiervon größere Mengen tabu sind.
"Wichtig ist, dass die Allergie in einem Allergiepass dokumentiert wird, den der Patient immer mit sich trägt, und dass der Patient mit Medikamenten für die Selbstbehandlung ausgestattet wird", sagt der Allergologe Thilo Jakob von der Uniklinik Giessen und verweist auf Gefahren von kleinen Allergenmengen im Essen, die oft nicht bekannt sind. Hier muss der Allergiker jederzeit in der Lage sein, sich selbst zu behandeln. Aber auch außerhalb des Essens lauert das Allergen: "Es gibt bestimmte gelatinehaltige Notfalllösungen, die alpha-Gal enthalten. Werden solche Volumenersatzmittel zum Beispiel nach einem Verkehrsunfall verabreicht, wäre das im Allergiefall natürlich fatal."
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