UNTERM STRICH: Gassigehen mit Schildkröte
Die Welt, sie ist entschleunigt. Dafür ist der Flaneur zurück / Von Dominik Bloedner.
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In diesen Zeiten, die so grausig und unfreundlich sind, und die uns vor eine harte Probe stellen, erlebt eine alte, leider lange in Vergessenheit geratene Kulturtechnik ihre Renaissance, als positiver Nebeneffekt der Krise. Die Rede ist vom Flanieren, vom schlendernden Beobachten, vom Umherschweifen.
Dazu blicken wir zurück ins 19. und frühe 20. Jahrhundert und in große Städte wie Berlin oder Paris, in denen damals das Leben immer wuseliger wurde, und in denen großbürgerliche Dandys mit zur Schau gestellter Entschleunigung ihren Widerwillen gegen das Neue zum Ausdruck brachten. In Paris, kolportiert der große Denker Walter Benjamin in seinem Passagen-Werk, sollen Flaneure gar mit einer Schildkröte Gassi gegangen sein.
Sich absichtslos treiben lassen, kein Ziel und keinen Termindruck haben, sich der Anarchie des Gehens ergeben – all das schärft den Blick auf das Schöne in dieser Welt. Staunen geht auch ohne viele Reize. Flanieren weckt schöne Erinnerungen, wenn man etwa zufällig beim SC-Stadion vorbeikommt und "Ach" seufzt, oder vor der verrammelten Stammkneipe steht und leise "Prost" flüstert. Flaneure sind gute Kopfkinobesucher. Sie malen sich aus, was an jener Straßenkreuzung oder vor dieser Häuserwand an Spannendem, Dramatischem, Romantischem und Surrealem alles so passiert ist – oder sich zutragen wird. Wenn diese Zeiten, die wir gerade durchleben, sich überlebt haben.
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