Toxische Familiensysteme

Vielen bei der Berlinale gezeigten Filmen gelingt es, über persönliche Geschichten gesellschaftspolitisch relevante Fragen aufzugreifen.  

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Elizabeth Banks spielt die schwangere Joy in dem Drama „Call Jane“.  | Foto: Wilson Webb
Elizabeth Banks spielt die schwangere Joy in dem Drama „Call Jane“. Foto: Wilson Webb
Wenn das Leben im Krisenmodus versackt, dauert es in vielen Filmen nicht lange, bis sich eine der Darstellerinnen eine Zigarette anzündet. Der Wettbewerb der Berlinale erzählt diesmal viele persönliche Geschichten. Charlotte Gainsbourg spielt eine Frau, deren Ehe kaputtgegangen ist. Juliette Binoche eine, deren Beziehung gerade zerbricht. Und eine der schönsten Szenen findet sich im Film "Nana" aus Indonesien.

Zwei Frauen sitzen darin auf einer Treppe. Eine von ihnen ist verheiratet, und die andere hat mit eben jenem Ehemann eine Affäre. Zwischen beiden entwickelt sich eine ungewöhnliche Beziehung. Die Geschichte spielt in den 1960er Jahren. Und während beide also da sitzen und über ihre Perspektiven nachdenken, rauchen sie in Ruhe.

Der Goldene Ehrenbär
wird digital verliehen

Bei den Filmfestspielen sollen am heutigen Mittwoch die Auszeichnungen verliehen werden, wegen der Pandemie etwas früher als üblich. Insgesamt 18 Filme gehen ins Rennen um den Goldenen Bären. Jurypräsident Night M. Shyamalan ("The Sixth Sense") twitterte neulich, er habe für die Jury amerikanisches Super-Bowl-Fast-Food bestellt. Er brauche einen Milkshake, während er das Kino seziere.

Das Kino sezieren, unter die Lupe nehmen also? Nach zwei Jahren Pandemie wurde lange überlegt, wie die Filmfestspiele in Berlin stattfinden können. Trotz Omikronwelle sitzen nun seit vergangener Woche Tausende Menschen im Kino. Vieles scheint bisher gut organisiert. Manches kommt anders als geplant. Schauspielerin Isabelle Huppert (68) zum Beispiel musste wegen einer Corona-Infektion kurzfristig absagen; ihr sollte am Dienstagabend der Goldene Ehrenbär für ihr Lebenswerk verliehen werden. Das wollte die Festivalleitung, da die Künstlerin nicht gravierend erkrankt sei, nun virtuell tun.

Im Wettbewerb blicken viele Filme auf Gefühle, Beziehungen, Konflikte und die Suche nach Identität. Oft stehen komplexe Frauenfiguren im Fokus, die sich von Abhängigkeiten befreien.

Die Pandemie selbst taucht in den wenigsten Filmen auf. Juliette Binoche trägt in "Avec Amour et Acharnement" eine OP-Maske, wenn sie zur Arbeit geht. Und auch in Rithy Panhs Filmcollage "Everything Will Be Ok" tauchen immer mal Masken auf – in dem Film versklaven kleine Tierfiguren kleine Menschenfiguren. Dazu werden Dokumentaraufnahmen von Krieg, Zerstörung und geschredderten Küken eingeblendet.

Vielen Filmen gelingt es, über persönliche Geschichten gesellschaftspolitisch relevante Fragen aufzugreifen. Dazu zählt Andreas Dresens neues Projekt. Der deutsche Regisseur greift den Fall des früheren Guantánamo-Häftlings Murat Kurnaz auf – erzählt die Geschichte aber über dessen Mutter. Ähnliche Ansätze sieht man auch im US-Historiendrama "Call Jane" über illegale Abtreibungen und im Drama "Ein Jahr, eine Nacht" über den Terroranschlag auf den Pariser Club "Bataclan". Der spanische Regisseur Isaki Lacuesta erzählt, wie zwei Überlebende des Anschlags, Céline und Ramón, mit den tiefen Spuren in ihren Leben umgehen. Das Drama basiert auf den Aufzeichnungen des Überlebenden Ramón Gonzalez. Der Film wirft interessante Blickwinkel auf. Etwa, wenn Kollegen vor der Frage stehen, wie sie jemandem in der Situation helfen können – und ihnen nur einfällt: "Wir haben ein bisschen was gesammelt. Damit du dir was Schönes kaufen kannst." Wie hält man Traumata aus? Wie verschiebt sich die Erinnerung an einen solchen Abend? Gegen Ende bleibt der Film allerdings in einer entscheidenden Frage offen, was Manche ratlos aus dem Kino gehen ließ.

Besonders interessant gemacht ist "Robe of Gems": Der Film erzählt von drei Frauen in Mexiko, die auf unterschiedlichen Wegen mit dem Drogengeschäft in Konflikt geraten. Der Film ist eine Parabel auf eine Gesellschaft, die von Gewalt und Profitgier beherrscht wird. Vieles davon wird nicht explizit erzählt, die Figuren bleiben eher vage, die Handlung rätselhaft, aber das Gefühl nach dem Kinobesuch ist beklemmend.

Der Begriff beklemmend passt auch zu zwei Dramen aus der Schweiz: "Drii Winter" von Michael Koch und "Die Linie" von Ursula Meier. Letzteres erzählt, wie eine Mutter-Tochter-Beziehung gewalttätig eskaliert – und was passiert, wenn Familiensysteme so toxisch sind, dass man nicht miteinander reden kann. Der Film zeigt eine beeindruckende Valeria Bruni Tedeschi.

Die Entscheidung, welche Darstellerinnen oder Darsteller diesmal ausgezeichnet werden, dürfte ohnehin schwerfallen. Die Berlinale vergibt keine Schauspielpreise mehr getrennt nach Geschlechtern. Stattdessen werden die besten Leistungen in einer Hauptrolle und in einer Nebenrolle ausgezeichnet. Diesmal gibt es viele interessante Frauenfiguren – und entsprechend gute Schauspielerinnen. Aber auch die Männer darf man nicht vergessen. Wenn man etwa dem Franzosen Denis Ménochet im Eröffnungsfilm "Peter von Kant" oder dem abgehalfterten Schlagerstar (Michael Thomas) in Ulrich Seidls "Rimini" zusieht, denkt man schnell: Ach, was weinen sie schön, die Männer.
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