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Straßenkinder in Brasilien

Ständig auf der Flucht

In der brasilianischen Metropole Recife, wo bald WM-Fußball gespielt wird, leben 1200 Straßenkinder – beim Verein Ruas e Praças erhalten sie eine Auszeit.  

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Straßenkinder in Recife haben eine Ruine besetzt Foto: Mateus Sá
Marcio, der dunkelhäutige Junge mit den blond gefärbten Locken und dem glitzernden Ohrring, ist ein bisschen high. Der billige Klebstoff, den er schon seit vier Jahren schnüffelt. Die Bewegungen sind fahrig, der Blick ist glasig. Der 16-Jährige, der vor einem trinkenden, prügelnden Onkel und einer Mutter, die ihn nie haben wollte, von einem kleinen Dorf in die nordostbrasilianische Großstadt Recife geflohen ist, hat eine große Klappe und albert mit den Betreuern und anderen Kindern herum. Auch mit dem ernsten Jungen in der Ecke. Doch dieser hat Angst. Todesangst. "Wir kommen nicht an ihn heran, er macht sofort zu", sagt der Sozialarbeiter Tonho das Olindas über Marcios Kumpel. Vor kurzem habe ihn die Polizei anscheinend mit einer größeren Menge Drogen erwischt und so lange in die Mangel genommen, bis er schlussendlich seinen Dealer Preis gegeben habe. In der Hafenmetropole, die eine der höchsten Mordraten in Brasilien verzeichnet, kann solch ein Verrat durchaus das Todesurteil bedeuten.

Am weißen Plastiktisch sitzen knapp ein Dutzend Kinder, am Boden unter der Pinwand hat sich ein etwa Zehnjähriger hingekauert und döst. Das Leben auf der Straße strengt an. Die 1987 gegründete Hilfsorganisation Ruas e Praças (deutsch: Straßen und Plätze) bietet im Zentrum der 1,6 Millionen Einwohner zählenden Stadt Recife ein niederschwelliges Angebot für die vielen Kinder und Jugendlichen, die weder ein Dach über dem Kopf noch eine Familie oder so etwas wie einen Schulalltag oder eine Perspektive haben. Ehemalige Mitarbeiter staatlicher Fürsorgeeinrichtungen hatten die Organisation einst gegründet, weil die Stadt damals zahlreiche Hilfseinrichtungen geschlossen hat. Die Militärdiktatur war kurz zuvor abgelöst worden, das Land war im Umbruch und die berüchtigten Todesschwadronen hatten es auf die Obdachlosen und Armen abgesehen.

"Es gibt in Recife etwa 1200 Straßenkinder", sagt Maria de Lurdes Silva do Nacimiento, eine Leiterin von Ruas e Praças. 20 Mitarbeiter – von der Psychologin über den Fahrer, die Krankenschwester und den Tanzlehrer bis zu den Streetworkern – kümmern sich um die Kinder, bieten Workshops, reden mit Eltern und Behörden. Sie verwalten das Elend, sie geben Hoffnung und eine Auszeit vom Leben da draußen – und gar nicht so selten erringen sie dabei kleine Siege. Die Einrichtung wird mit Spenden aus dem Ausland finanziert, unter anderem von Manos Unidas aus Spanien und Caritas International.

Die Jungen und Mädchen im Alter von acht bis siebzehn Jahren kommen morgens zum Essen und Duschen, manchmal kommen sie jeden Tag, manchmal wochenlang gar nicht. Sie haben leere, müde Blicke, Kulleraugen sehen anders aus. Von außen betrachtet gleicht das gelb gestrichene Gebäude einem Hochsicherheitstrakt. Die Fenster sind vergittert, oben auf der Mauer um das Grundstück sind spitze Glasscherben in den Mörtel eingelassen, die Nachbarhäuser schützen sich mit Stacheldraht. Die Sonne brennt unerbittlich, es ist keine gute Gegend.

Eine, die in letzter Zeit fast jeden Tag vorbeischaut, ist die 14-jährige Jainara mit dem mühsam gebändigten Kraushaar, den unruhigen Augen, dem sauberen weißen Top und den staubigen Flip-Flops. Sie lebt auf der Straße, seit sie acht ist. Den Vater hat sie nie gesehen, die Mutter trinkt, sie ist abgehauen. Nur zur Oma hat sie noch engen Kontakt. "Es ist toll hier, weil wir uns ordentlich waschen können und etwas zu essen bekommen. Außerdem machen sie tolle Sachen mit uns, wir dürfen malen oder spielen", sagt sie über die Anlaufstelle. Und sie schwärmt vom Aufenthalt auf dem kleinen Landgut, das Ruas e Praças rund 70 Kilometer nördlich von Recife betreibt. Von dem satten Grün, den alten Mangobäumen, dem Bach, in dem man sich waschen kann, von den Tieren, von der Ruhe und dem Frieden.

"Das sind alles verschreckte Kinder, sie haben eine kurze Aufmerksamkeitsspanne, sie sind sehr angespannt", sagt Ana Maria Salas Liegchilina und nimmt Jainara in den Arm. Die 24-Jährige mit den Birkenstock-Sandalen und dem Lippen-Piercing kommt aus Ecuador, hat eine russische Mutter, lebt seit fünf Jahren in Deutschland und studiert in Mannheim Sozialarbeit. Seit zwei Monaten macht sie in Recife ein Auslandspraktikum. "Wenn die Kinder bei uns Kinder sein können, wenn sie wenn auch nur für kurze Zeit sich entspannen, spielen und lachen, dann ist das schon ein Erfolgserlebnis", sagt Ana.

Einige der Kinder prostituieren sich für ein paar Reais, eine Mahlzeit oder das eine oder andere Geschenk. Jainara bleibt diesbezüglich vage. Doch sie erzählt: "Mit meiner Freundin Lisa bin ich mal mit zu einem älteren Typen gegangen, der war ein bisschen verrückt im Kopf. Wir haben mit ihm rumgemacht, so wie er das wollte. Ich habe ihn abgelenkt, während Lisa versucht hat, an das Handy zu kommen. Da ist er sehr wütend geworden, hat uns angeschrien und Schläge angedroht. Wir sind schnell abgehauen."

Jainara hat derzeit so etwas wie ein Zuhause. Aber eines, das sie nicht besonders mag und in dem sie sich nachts fürchtet und deshalb ständig müde ist: "Ich habe Angst davor, dass jemand kommt mit einem Stein und mich erschlägt, so wie ich es schon einmal beobachtet habe. Oder dass sie kommen und uns anzünden. Auch das habe ich schon gesehen." Mit anderen Straßenkindern hat sie ein Abbruchhaus an einer Ausfallstraße besetzt, einige hundert Meter von Ruas e Praças entfernt. Die Kinder hausen zwischen leeren, mit Graffiti verschmierten Lagerhallen, Tankstellen und mobilen Straßenimbissen und inmitten von Bauschutt.

"Es ist falsch, dass alles Geld für Stadien ausgegeben wird."

Patrizia, 17 Jahre
Ein ausgemergelter Junge mit dem Trikot von Real Madrid lungert im Schatten einer Palme herum, die Tube Klebstoff kostet nur fünf Reais, also rund 1,60 Euro. "Und auch Crack ist hier auf der Straße auf dem Vormarsch", berichtet Ana. Sie und die anderen Streetworker betreten die Ruine nicht, an dem löchrigen Drahtzaun endet ihr Job.

Diese Seite von Recife werden die vielen Fußballfans, Funktionäre, Stars und Journalisten im Juni wohl nicht sehen. Die Stadt ist Standort für die Weltmeisterschaft, fünf Mal wird hier gespielt, unter anderem trifft Deutschland im letzten Gruppenspiel am 26. Juni auf die USA. 30 Kilometer außerhalb, weit weg vom Elend, ist extra für das Turnier für mehr als 600 Millionen Reais ein nagelneues, 46 000 Zuschauer fassendes Stadion aus dem Boden gestampft worden. Inzwischen spielt dort der zweitklassige Traditionsclub Náutico vor zumeist spärlich besetzten Rängen, auch sollen, so hofft man, Stars wie Elton John demnächst dort für die weiße, wohlhabende Mittelschicht singen. Neben dem Stadion entsteht gerade eine Shopping-Mall.

Eines der Straßenkinder hat von seinen Eltern ebenfalls den Namen Elton John bekommen, Brasilianer sind in dieser Hinsicht bekanntlich sehr weltoffen. Der 12-Jährige freut sich auf das Spektakel: "A copa é bom – die WM ist gut." "Die Straßen werden gelb-grün-blau sein wie im Karneval, wenn die Sonne aufgeht, ist hier alles bunt", schwärmt auch der 14-jährige Mika. "Ich hingegen wünsche mir Liebe, Frieden und keine Gewalt", sagt Jainara. Die 17-jährige Patrizia meint: "Einerseits macht es bestimmt Spaß, andererseits brauchen wir Gesundheit und Bildung. Es ist falsch, dass alles Geld für die Stadien ausgegeben wird." Und auch Ana ist skeptisch. Sie freut sich darauf, die Spiele mit den Freunden zu sehen, sie drückt Ecuador, ihrem Heimatland, gegen die Schweiz und gegen Frankreich die Daumen. "Aber es fällt sehr schwer zu akzeptieren, dass allein im Stadionneubau von Manaus vier Millionen Reais für Stühle ausgegeben wurden, zudem sind auf der Baustelle dort schon Arbeiter gestorben", sagt sie. Ohnehin ginge es beim Fußball nur noch ums Geld, auch die Spieler verdienten viel zu viel.

Weiter geht es für Ana und den Streetworker Tonho das Olindas von der besetzten Ruine ins quirlige Geschäftszentrum Boa Vista, auf deutsch: schöner Blick. Hier laufen sie herum mit ihren kanariengelben T-Shirts, die an die Trikots der Seleção, der brasilianischen Nationalmannschaft, erinnern. Sie treffen Gorge Pato und Maginha, zwei ehemalige Straßenkinder. Er wohnt inzwischen in einer Favela und wäscht Autos, sie lebt noch auf der Straße und arbeitet gelegentlich als Verkäuferin. Ihre Kinder hat sie ihrer Mutter gegeben. Beide sind recht wackelig auf den Beinen. Der Alkohol. Ein alter, zerlumpter Müllsammler schleppt sich vorbei und hebt eine leere Getränkedose auf. Nebendran gehen hübsch zurechtgemachte Sekretärinnen schnatternd in die Mittagspause, Händler bieten Kokosnüsse und andere Früchte an, in der Renaissancekirche am Platz wird ein Gottesdienst gefeiert.

"Hier an diesem Platz werden Drogen gehandelt, hier sammeln sich normalerweise die Kids", sagt Ana. Doch keiner ist heute hier. Die Polizei hat vor kurzem eine Razzia gemacht, vor der WM wird zumindest das Zentrum von Recife aufgehübscht. "Die Kinder haben Angst, dass sie für die Dauer des Turniers weggesperrt werden", berichtet Ana. Ihre angestammten Schlafplätze in der Einkaufspassage sind weg.

Tonho das Olindas weckt eine Straßenecke weiter einen kleinen Jungen, der auf einer schmutzigen Matratze unter den Sitzen einer Bushaltestelle schläft. Die Leute hasten vorbei, die altersschwachen Stadtbusse blasen Dieselschwaden in die drückend heiße Luft. "Ich habe ihn erinnert, dass es morgen früh auf das Landgut in die Natur geht, er freut sich drauf. Hoffentlich verschläft er nicht", sagt der Streetworker.

Es ist ein Ziel, wenn auch nur für die nächsten fünf, sechs Tage. Und auch Janaira hat ein Ziel. "Ich möchte unheimlich gern wieder zur Schule gehen und ein ordentliches Leben führen", sagt sie. "Ich bin schon drei Mal von der Schule geflogen und meine Mutter hat sich geweigert, mich wieder einzuschreiben, weil sie sagt, dass das eh keinen Sinn macht für mich." Die Sozialarbeiter haben sie nun wieder angemeldet. "Ich hoffe, dass das diesmal klappt."

– Der Autor hat auf Einladung von Caritas International Recife besucht.

Ressort: Ausland

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