Spurensuche: die Mauer ist weg
Die Berliner Mauer ist heute fast unauffindbar für Jugendliche, die sie ohnehin nur noch aus dem Geschichtsunterricht kennen.
Sebastian Lehmann
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Es ist Neujahr und es ist kalt und grau in Berlin. Wir sitzen in der U-Bahn Richtung Bernauer Straße. Es ist Mittag, in der Bahn fast nur Schlafende auf dem Heimweg. Wir sind auf der Suche nach einem Stück deutscher Vergangenheit, nach einem Monument des Kalten Krieges, den wir Jungen nur noch aus dem Geschichtsunterricht kennen. Wir sind auf der Suche nach den Spuren zweier getrennter Deutschlands, wir sind auf der Suche nach der Berliner Mauer.
Von der Mauer keine Spur. Wir folgen einem anderen Pärchen, die einen Stadtplan in der Hand halten und augenscheinlich auch auf der Suche nach der Mauer sind. Dann endlich eine Tafel aus Plastik: "Gedenkstätte Berliner Mauer" steht darauf und dass haargenau hier früher der berühmte Fluchttunnel verlief, den alle aus dem Sat 1-Film kennen. Und dass irgendjemand die Tunnelbauer verraten habe und dass daraufhin die DDR-Grenzpolizei einen Flüchtenden im Tunnel erschossen haben.
Die Mauer kann also nicht weit sein, aber wir finden sie nicht und kehren zur U-Bahnstation zurück. Auf dem Weg dorthin tritt eine alte Frau aus einem Hauseingang eines dieser hässlichen Häuser und fragt uns verwirrt, was für ein Tag heute sei. Wir sagen Dienstag. Dann kurz vor der Station an einem Haus sehen wir eine mit Graffiti besprayte Mauer. Ist sie das jetzt? Oder ist es einfach nur eine "normale" Mauer? Vorsichtshalber mache ich ein Foto. Noch ein Blick auf den Stadtplan: vielleicht man eine Station weiter was. Im Nordbahnhof stinkt's natürlich auch nach Pisse, aber als wir hinaustreten sehen wir sie sofort: die Berliner Mauer.
Anfänglich bestand die Mauer nur aus Stacheldrahtrollen, an deren Stelle bald eine vier Meter hohe Mauer trat, geschützt durch eine zweite Mauer aus armiertem Beton. Entlang der Grenze zu West-Berlin befanden sich 293 Beobachtungstürme und 57 Bunker, lesen wir im Reiseführer. Grau ist sie und oben ist ein rundes Betonteil drauf gesetzt, dahinter steht ein kleinere Mauer, die fast genauso aussieht, dazwischen war der Todesstreifen, kramen wir aus unserem Geschichtsunterrichtsgedächtnis hervor.
Wir gehen an der Mauer entlang und versuchen ein Stück herauszuschlagen aus der Mauer, aber sie ist stabiler als sie aussieht, härter als der Stein, den wir als Hammer benutzen. Dann wieder eine Tafel: Auch hier wurde ein Flüchtling erschossen, am Boden ist für ihn eine Gedenktafel eingemauert, deren Schrift man nicht mehr entziffern kann. Am Reichstag, haben wir gesehen, erinnern Mahnkreuze an die Maueropfer.
Wir versuchen auf die andere Seite der Mauer zu kommen, auf die Ost-Seite, wo ein paar grafittibesprayte Teile der Mauer aufgereiht sind, aber überall stehen Zäune. Über einen Friedhof gelangen wir schließlich dorthin. Die Mauerteile sind teilweise mit Gras bewachsen und direkt hinter ihnen liegt der Friedhof dieses Friedhofs: kreuz und quer die alten Grabsteine von den Gräbern, die niemand mehr pflegt und bezahlt, an die niemand mehr denkt.
Hier gelingt es uns endlich, ein Stück Mauer rauszuschlagen. Wir gehen zurück, alleine, weit weg knallen vereinzelt völlig verspätete Silvester-Böller und wir müssen an die Mauerschüsse denken, auch wenn das irgendwie blöd ist. Am Abend sitzen wir dann in einem hippen Lokal in den Hackeschen Höfen und schlürfen Drinks. Sitzen wir eigentlich gerade im ehemaligen Ostteil der Stadt? Als aus den Boxen der Strokes-Song "The Modern Age" tönt, ist es uns klar: Wir sitzen nicht im Osten und nicht im Westen, wir sitzen in Berlin.
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