Neues Sachbuch
Reisen in Zeiten der Selfie-Sticks
Der Italiener Marco d’Eramo hat eine schonungslose Diagnose des touristischen Zeitalters geschrieben und nimmt den Leser auf eine interessante und unterhaltsame Reise mit.
Di, 14. Aug 2018, 19:20 Uhr
Literatur & Vorträge
Wir benötigen Ihre Zustimmung um BotTalk anzuzeigen
Unter Umständen sammelt BotTalk personenbezogene Daten für eigene Zwecke und verarbeitet diese in einem Land mit nach EU-Standards nicht ausreichenden Datenschutzniveau.
Durch Klick auf "Akzeptieren" geben Sie Ihre Einwilligung für die Datenübermittlung, die Sie jederzeit über Cookie-Einstellungen widerrufen können.
AkzeptierenMehr Informationen
Doch d’Eramo, der beim französischen Soziologen Pierre Bourdieu ("Die feinen Unterschiede") studiert hat, ist Häme oder die bloße Kritik an den Touristen, die sich vor Sehenswürdigkeiten mitunter lächerlich machen und verrenken, zu wohlfeil, zu billig. In seinem Buch "Die Welt im Selfie" geht es ihm um nichts Geringeres als um eine Diagnose des von ihm ausgerufenen "touristischen Zeitalters". Dass diese Diagnose manchmal schonungslos ausfallen muss, liegt auf der Hand. Dennoch ist sie nie anklagend, nie abwertend, sondern angenehm selbstironisch souverän.
D’Eramo nimmt den Leser mit auf eine interessante, unterhaltsame Reise und streift dabei viele Facetten des Tourismus wie die Entstehung von Bettenburgen am Mittelmeer, von Kreuzfahrten, Disneyland und Las Vegas. Weiter lässt er in seinem Essay Schriftsteller wie Mark Twain und Goethe oder Philosophen und Intellektuelle wie Roland Barthes, Hans Magnus Enzensberger und Theodor W. Adorno zu Wort kommen. Dass er sich im letzten Drittel des Wälzers in akademischen Scharmützeln verliert, sei ihm verziehen.
Die Anfänge des Tourismus reichen ins 18. Jahrhundert zurück: Junge europäische Adlige wurden auf die "Grand Tour" geschickt mit dem Auftrag, fremde Länder und alte Kulturen kennenzulernen und ihren Horizont zu erweitern. Interessant: Schon damals wurde den reichen Sprösslingen ein Zeichenblock mitgegeben. Sie sollten Landschaften und spektakuläre Anblicke zeichnerisch festhalten, "was den Effekt hatte, dass die Reisenden bei allem, was sie beobachteten, das ‚Malbare‘ privilegierten", schreibt d’Eramo. "So kam es zur Kategorie des ‚Pittoresken‘ (wörtlich ‚was sich zum Malen eignet‘), die zu einem wesentlichen (und später eher belächelten) Kriterium des künftigen Tourismus werden sollte."
Immer mehr bildungsbeflissene wohlhabende Menschen machten sich auf den Weg. Bereits im 19. Jahrhundert gab es an den touristischen Hotspots Klagen über die "Herdenvieh-Reisenden". Florenz etwa, zitiert d’Eramo den französischen Schriftsteller Stendhal (1783-1842), sei "verstopft von 600 Russen oder Engländern, (...) die ihre eigenen Gepflogenheiten dorthin verpflanzen."
Tourismus, das zeigt d’Eramo weiter auf, war immer schon eine Aufholjagd. Was den Privilegierten einst die Sommerfrische oder der Bildungsurlaub war, wurde vom Bürgertum nachgeahmt und später von der Arbeiterklasse, die sich bezahlten Urlaub erkämpft hatte, in eine Massenpraxis überführt – mit dem Resultat, dass man heute den Eindruck habe, die ganze Menschheit sei in immerwährender, rastloser Betriebsamkeit.
Was aber suchen die Menschen, abgesehen von Sonne, Meer und wahlweise Erholung oder Party? Warum bleibt Authentizität in der Regel eine Schimäre? Warum kann es so etwas wie das "echte Spanien" gar nicht geben? All diese Fragen stellt und beantwortet d’Eramo. Auch folgende: Warum ließ sich in keiner menschlichen Kultur außer der gegenwärtigen je eine massenhafte Praxis des Badens im Meer und des Bräunens in der Sonne feststellen? Wie also konnte etwas, was früher als reiner Irrsinn galt, zu einem beinahe unausweichlichen sozialen Muster werden?
D’Eramo macht für die Umwälzung der Sitten – neben dem System der Massentransportmittel und der Institution des bezahlten Urlaubs – vor allem die Entfremdung der verstädterten Bevölkerung von ihrer Natur verantwortlich. Dass wir Europäer heute gerne hüllenlos baden, hängt aber auch mit der Entstehung des exotischen Blicks zusammen, den wir seit Jean-Jacques Rousseau auf die "edlen Wilden" werfen.
D’Eramos Buch sollte uns zum Nachdenken anregen und nicht erst dann, wenn wir mit tausenden anderen Touristen eine dieser dem Tod geweihten Weltkulturerbestätten besichtigen und uns fragen: Lebt da noch irgendjemand oder ist das doch alles nur Inszenierung, Kulisse und Nippes? Oder wenn wir an einem vermeintlich unberührten Reiseziel dann doch zur Bild-Zeitung am Kiosk greifen und uns wundern, dass schon alle Strandliegen besetzt sind. Oder wenn mal wieder am Flughafen Chaos herrscht.
Der Tourismus, und hier bemüht d’Eramo den amerikanischen Ökonomen Fred Hirsch und dessen Buch "Die sozialen Grenzen des Wachstums", zerstört sich selbst. Wenn alle ans Meer gehen wollen, gibt es das Meer nicht mehr. Das ist traurig, aber wahr. Man sieht es etwa an der fast komplett zubetonierten spanischen Mittelmeerküste – und man befürchtet, dass dies anderen Ländern leider nicht als mahnendes Beispiel gereicht.
364 Seiten, 26 Euro.