Neues Sachbuch

Reisen in Zeiten der Selfie-Sticks

Der Italiener Marco d’Eramo hat eine schonungslose Diagnose des touristischen Zeitalters geschrieben und nimmt den Leser auf eine interessante und unterhaltsame Reise mit.  

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Wir waren hier: Touristen machen in Paris Beweisfotos.  | Foto: dpa
Wir waren hier: Touristen machen in Paris Beweisfotos. Foto: dpa
Sie sind nicht mehr wegzudenken, sie machen vor nichts halt, die Menschen mit ihren gezückten Smartphones und den Selfie-Sticks. Weder vor dem Freiburger Münster, noch vor der Alhambra in Granada, dem Eiffelturm in Paris oder anderen Orten, die nun einmal als touristische Attraktionen gelten und die man als Reisender heutzutage eben abhaken muss. Es sind Zeiten, in denen der schnelle Akt des Sich-selber-fotografierens schon lange das Ansehen, das Staunen, das Auf-sich-wirken-lassen und das Erleben ersetzt hat. "Das Selfie", schreibt der renommierte italienische Journalist Marco d’Eramo, Jahrgang 1947, "drückt ein unbezwingbares Bedürfnis aus (...) sich zu vergewissern, dass unser Dasein kein Ammenmärchen ist, nichts Eingebildetes, sondern dass wir wirklich da sind: Das Selfie fotografiert eine solche Selbstunsicherheit, dass es zum Heulen ist."

Die ersten Touristen waren Adlige mit Zeichenblock

Doch d’Eramo, der beim französischen Soziologen Pierre Bourdieu ("Die feinen Unterschiede") studiert hat, ist Häme oder die bloße Kritik an den Touristen, die sich vor Sehenswürdigkeiten mitunter lächerlich machen und verrenken, zu wohlfeil, zu billig. In seinem Buch "Die Welt im Selfie" geht es ihm um nichts Geringeres als um eine Diagnose des von ihm ausgerufenen "touristischen Zeitalters". Dass diese Diagnose manchmal schonungslos ausfallen muss, liegt auf der Hand. Dennoch ist sie nie anklagend, nie abwertend, sondern angenehm selbstironisch souverän.

D’Eramo nimmt den Leser mit auf eine interessante, unterhaltsame Reise und streift dabei viele Facetten des Tourismus wie die Entstehung von Bettenburgen am Mittelmeer, von Kreuzfahrten, Disneyland und Las Vegas. Weiter lässt er in seinem Essay Schriftsteller wie Mark Twain und Goethe oder Philosophen und Intellektuelle wie Roland Barthes, Hans Magnus Enzensberger und Theodor W. Adorno zu Wort kommen. Dass er sich im letzten Drittel des Wälzers in akademischen Scharmützeln verliert, sei ihm verziehen.

Die Anfänge des Tourismus reichen ins 18. Jahrhundert zurück: Junge europäische Adlige wurden auf die "Grand Tour" geschickt mit dem Auftrag, fremde Länder und alte Kulturen kennenzulernen und ihren Horizont zu erweitern. Interessant: Schon damals wurde den reichen Sprösslingen ein Zeichenblock mitgegeben. Sie sollten Landschaften und spektakuläre Anblicke zeichnerisch festhalten, "was den Effekt hatte, dass die Reisenden bei allem, was sie beobachteten, das ‚Malbare‘ privilegierten", schreibt d’Eramo. "So kam es zur Kategorie des ‚Pittoresken‘ (wörtlich ‚was sich zum Malen eignet‘), die zu einem wesentlichen (und später eher belächelten) Kriterium des künftigen Tourismus werden sollte."

Immer mehr bildungsbeflissene wohlhabende Menschen machten sich auf den Weg. Bereits im 19. Jahrhundert gab es an den touristischen Hotspots Klagen über die "Herdenvieh-Reisenden". Florenz etwa, zitiert d’Eramo den französischen Schriftsteller Stendhal (1783-1842), sei "verstopft von 600 Russen oder Engländern, (...) die ihre eigenen Gepflogenheiten dorthin verpflanzen."

Tourismus, das zeigt d’Eramo weiter auf, war immer schon eine Aufholjagd. Was den Privilegierten einst die Sommerfrische oder der Bildungsurlaub war, wurde vom Bürgertum nachgeahmt und später von der Arbeiterklasse, die sich bezahlten Urlaub erkämpft hatte, in eine Massenpraxis überführt – mit dem Resultat, dass man heute den Eindruck habe, die ganze Menschheit sei in immerwährender, rastloser Betriebsamkeit.

Was aber suchen die Menschen, abgesehen von Sonne, Meer und wahlweise Erholung oder Party? Warum bleibt Authentizität in der Regel eine Schimäre? Warum kann es so etwas wie das "echte Spanien" gar nicht geben? All diese Fragen stellt und beantwortet d’Eramo. Auch folgende: Warum ließ sich in keiner menschlichen Kultur außer der gegenwärtigen je eine massenhafte Praxis des Badens im Meer und des Bräunens in der Sonne feststellen? Wie also konnte etwas, was früher als reiner Irrsinn galt, zu einem beinahe unausweichlichen sozialen Muster werden?

D’Eramo macht für die Umwälzung der Sitten – neben dem System der Massentransportmittel und der Institution des bezahlten Urlaubs – vor allem die Entfremdung der verstädterten Bevölkerung von ihrer Natur verantwortlich. Dass wir Europäer heute gerne hüllenlos baden, hängt aber auch mit der Entstehung des exotischen Blicks zusammen, den wir seit Jean-Jacques Rousseau auf die "edlen Wilden" werfen.

Wenn alle ans Meer wollen, gibt es das Meer nicht mehr

D’Eramos Buch sollte uns zum Nachdenken anregen und nicht erst dann, wenn wir mit tausenden anderen Touristen eine dieser dem Tod geweihten Weltkulturerbestätten besichtigen und uns fragen: Lebt da noch irgendjemand oder ist das doch alles nur Inszenierung, Kulisse und Nippes? Oder wenn wir an einem vermeintlich unberührten Reiseziel dann doch zur Bild-Zeitung am Kiosk greifen und uns wundern, dass schon alle Strandliegen besetzt sind. Oder wenn mal wieder am Flughafen Chaos herrscht.

Der Tourismus, und hier bemüht d’Eramo den amerikanischen Ökonomen Fred Hirsch und dessen Buch "Die sozialen Grenzen des Wachstums", zerstört sich selbst. Wenn alle ans Meer gehen wollen, gibt es das Meer nicht mehr. Das ist traurig, aber wahr. Man sieht es etwa an der fast komplett zubetonierten spanischen Mittelmeerküste – und man befürchtet, dass dies anderen Ländern leider nicht als mahnendes Beispiel gereicht.

Marco d’Eramo: Die Welt im Selfie – eine Besichtigung des touristischen Zeitalters. Sachbuch. Aus dem Italienischen von Martina Kempter. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.

364 Seiten, 26 Euro.
Schlagworte: Marco d'Eramo, Jean-Jacques Rousseau, D'Eramos Buch
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