Cem Özdemir
"Mit Luftschlägen allein ist es nicht getan"
BZ-INTERVIEW mit Grünen-Chef Cem Özdemir vor dem Bundesparteitag am Wochenende über den Kampf gegen die Terrormiliz IS und die Flüchtlingspolitik seiner Partei.
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BERLIN. Nicht alle Flüchtlinge werden in Deutschland bleiben können. Über diese Position Cem Özdemirs wird der Bundesparteitag der Grünen beraten, der am Wochenende in Halle stattfindet. Der Grünen-Chef distanziert sich im Vorfeld vom Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer. Mit Özdemir sprach Bernhard Walker.
Özdemir: Ich freue mich, dass die deutsche Politik und unzählige Bürger den Franzosen Mitgefühl und Solidarität bekundet haben. Wir dürfen dabei aber nicht stehen bleiben, sondern müssen viel stärker die Gesamtlage in den Blick nehmen.
BZ: Was meinen Sie konkret?
Özdemir: Der IS führt seit Jahren Krieg und tötet Zivilisten und Menschen, die er für Ungläubige hält. Vor allem im Irak und in Syrien. Er hat in Beirut bei dem jüngsten Bombenattentat Menschen ermordet und in Afghanistan sieben Angehörige der schiitischen Gruppe der Hasara geköpft. Darunter war ein neun Jahre altes Mädchen. Er hat vermutlich die russische Passagiermaschine über dem Sinai zum Absturz gebracht. Und auch beim Bombenanschlag in Ankara hatte er wohl die Hände im Spiel. Wenn wir uns über Paris hinaus dieses schreckliche Gesamtbild vor Augen führen, wird deutlich, wie groß und schwer die Aufgabe ist, dem IS zu begegnen.
BZ: Was müssen wir tun?
Özdemir: Es gilt hierzulande vor allem, Jugendliche vor den Fängen der Islamisten zu schützen. Da sind nicht nur die Moscheen gefragt. Auch das Internet spielt bei dieser Radikalisierung eine große Rolle. Außenpolitisch heißt das, die kurdischen Kämpfer weiter zu unterstützen. Sie stellen sich am Boden dem IS entgegen und haben die Stadt Sindschar zurückerobert. Mit Luftschlägen allein ist es nicht getan. Die Kurden brauchen unsere Unterstützung, was übrigens auch heißt, sehr ernsthaft mit Ankara zu reden. Denn die Türkei spielt im Kampf gegen den IS ein doppeltes Spiel. Auch muss endlich ein massives Tabu des Westens in Frage gestellt werden.
BZ: Welches Tabu?
Özdemir: Das Tabu Saudi-Arabien und Golfstaaten. Die sind seit Jahren Verbündete des Westens. Tatsächlich unterstützen sie den IS. Wenn der IS auf den Sklavenmärkten seine Gefangenen verkauft, sitzen dort reiche Saudis und Bürger der Golfstaaten und bieten fleißig mit. Wie lange will der Westen zum Treiben der Saudis noch schweigen? Solange wir das tun, sind wir unglaubwürdig und müssen uns den Vorwurf gefallen lassen, dass wir von Werten reden, aber hauptsächlich wirtschaftliche Interessen – Stichwort: Waffenexporte und Erdöl – verfolgen.
BZ: Sie sagten, dass man ernsthaft mit dem türkischen Präsidenten Erdogan sprechen müsse. Der sitzt aber am längeren Hebel, weil Europa ihn braucht, um die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren. Özdemir: Erdogan sitzt nicht am längeren Hebel, weil sein Versuch, in Moskau oder in der arabischen Welt Verbündete zu finden, gescheitert ist. Es ist also keineswegs aussichtslos, Druck zu machen – auch damit die Türkei Flüchtlingen Zugang zum Arbeitsmarkt gewährt und dafür sorgt, dass Flüchtlingskinder in die Schule gehen. Es ist doch irre, dass Menschen den gefährlichen Weg über das Mittelmeer antreten, weil sie in den Anrainerstaaten Syriens kaum noch leben können. Daher muss auch die humanitäre Hilfe in den Flüchtlingslagern in Jordanien oder im Libanon verlässlich und ausreichend finanziert werden.
BZ: Um die Flucht übers Meer zu vermeiden, schlägt die Große Koalition Flüchtlingskontingente vor. Einverstanden?
Özdemir: Die Idee ist richtig. Das ist eine alte Forderung von uns Grünen, damit die Menschen aus den Flüchtlingslagern in der Türkei, im Libanon oder Jordanien eine Perspektive bekommen. Dazu gehört auch eine Verteilung innerhalb der EU.
BZ: Ihre Partei ist in der Flüchtlingsfrage uneins. Für den Parteitag in Halle liegen einerseits Anträge vor, die fordern, dass jeder Flüchtling bleiben dürfe. Und anderseits widersprach der Tübinger OB Boris Palmer der Kanzlerin, als er sagte, dass Deutschland es nicht schaffe.
Özdemir: Der Bundesvorstand positioniert sich in seinem Antrag für Halle eindeutig. Niemand verteidigt das individuelle Asylrecht entschlossener als wir Grüne. Ein individuelles Recht bedeutet aber nun mal, dass sich nach einer rechtsstaatlichen Einzelfallprüfung zeigen kann, dass nicht jeder asylberechtigt ist. Es werden also nicht alle bleiben können. Wer aus anderen Gründen zu uns kommt, handelt natürlich nicht verwerflich. Asylberechtigt ist er trotzdem nicht. Deshalb war es richtig, dass wir Grüne im Asylkompromiss abseits des Asylrechts legale Zugangswege für Menschen vom Westbalkan durchgesetzt haben.
BZ: Was ist mit der Einlassung Palmers?
Özdemir: Auch da beziehe ich klar Position. Ich schätze seine Arbeit in Tübingen sehr. Doch Defätismus demotiviert die vielen Helfer, die sich um Flüchtlinge kümmern, und schadet den Grünen. In meiner Partei wissen alle, wie groß vor Ort die Aufgabe ist, Flüchtlinge aufzunehmen und gut zu versorgen. Genau deshalb haben wir zur Flüchtlingspolitik ein solides europa- und bundespolitisches Konzept erarbeitet, das wir auf dem Parteitag verabschieden werden.
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