"Man muss es nehmen, wie's kommt"
In Rumänien kämpfen vor allem Kinder und alte Menschen oft um ihre materielle Existenz - und gegen die Einsamkeit.
JuZ-Mitarbeiter Dominic Fritz
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Vor 15 Jahren, am 15. Dezember 1989, begann im rumänischen Temeswar die Revolution, die den brutalen Diktator Ceausescu stürzte. Heute leben in dem Land am Schwarzen Meer 22,3 Millionen Einwohner, von denen jeder pro Jahr im Durchschnitt 2310 Dollar verdient. 2007 soll Rumänien Mitglied der EU werden. JuZ-Autor Dominic Fritz lebte ein Jahr lang in Temeswar und arbeitete als Freiwilliger der Organisation "Jesuit European Volunteers" in einem Kinderhaus und anderen sozialen Projekten. Er berichtet in einem Rückblick von seinen Begegnungen.
Man nennt sie "die Institutionalisierten". Sie sind aufgewachsen in Krankenhäusern und Waisenheimen, bis der Zufall sie hierher führte, wo sie mit vier jungen Nonnen leben. Von den Eltern ist meist nur der Name bekannt. Laurean kennt nicht einmal den. Es existiert keine Geburtsurkunde. "Ich bin ein Phantom", sagt der Zehnjährige und mir bleibt das Lachen im Halse stecken. Hierher komme ich jeden Tag, um mit den sechs Jungen und sechs Mädchen ihr Leben zu teilen.
Laurean spielt zurückgezogen Lego. Der behinderte Marin möchte schreiben lernen. David malt wie ein Picasso, rastet aber ständig aus und wird dann völlig unberechenbar. Dana will einfach nur in den Arm genommen werden. Alex prügelt seinen Schmerz aus sich heraus. Jedes der Kinder giert nach Aufmerksamkeit, jeder kämpft gegen sein Traum der Wertlosigkeit. Je besser ich rumänisch spreche, desto mehr kann ich auch schimpfen: Der Übergang vom Teufelskerl zum Satansbraten ist fließend, die Kinder suchen ihre Grenzen.
Wenn sie nachmittags von der Schule heimkommen, ist die Bande kaum zähmen. Erst nach dem Abendessen wird's ruhiger, die Kids richten sich zum Schlafengehen und dürfen noch eine halbe Stunde Trickfilme ansehen. Dann verziehen sie sich in ihre Dreierzimmer und tauschen flüsternd ihre Tageserlebnisse aus, bis ich die letzte Runde für unser Einschlafritual drehe: In jedem Zimmer singe ich deutsche Schlaflieder, und die Kinder lauschen andächtig mit geschlossenen Augen, bis ich mich mit einem leisen "Schlaf, Kindlein, schlaf" aus dem Raum schleiche. Irgendwann schlafen sie unruhig ein. Und atmen die ewige, ungestillte Sehnsucht nach Liebe.
Normalerweise hat Dani neckische, flinke Augen, irgendwie gerissen, aber sympathisch. Heute sind Danis Augen glasig und müde, er spricht undeutlicher als sonst. Er schnüffelt. Aus einem ausgeblichenen Milchbeutel saugt er gierig seine eigene Welt heraus, die Dämpfe des berüchtigten "Aurolac", einem Autolack, mit dem viele rumänische Straßenkinder ihren Kummer betäuben. Ich schätze Dani auf 11, aber schnüffelnde Kindern sehen oft jünger aus als sie sind.
An diesem Abend gibt es Grund zum Feiern: das EM-Finale Portugal-Griechenland wird in allen Straßenkneipen live übertragen. Das Studentenviertel ist Danis Revier, hier fängt abends, wenn die Lokale voller werden, sein Arbeitstag an. Er geht betteln. Aber heute hat Dani frei und wir sehen uns das Spiel an - als Zaungäste. Dauernd müssen wir die Lokalität wechseln, weil Dani verscheucht wird: vom Wirt, von tussigen Studentinnen, von Typen mit Goldkettchen. Man sieht es Dani nicht nur an, dass er auf der Straße lebt, man riecht es vor allem. Der beißende Lackgeruch ist wie eine Visitenkarte. Das Schnüffelkind starrt auf den Bildschirm, aber sein gelegentlicher Jubel, seine Zurufe und seine Kickbewegungen scheinen nicht wirklich mit dem zusammenzupassen, was auf dem Spielfeld passiert. Parallelwelt. In der Halbzeit unterhalten wir uns ein wenig über sein Leben. Seine Mutter, sagt er, ist gestorben, als er vier war. Zwei Minuten später erzählt er gelangweilt, dass er mit neun Jahren von zu Hause ausriss - weil da doch seine Mutter gestorben ist. Die Vergangenheit verschwimmt, die Zukunft existiert nicht.
Eben sagt Dani, dass sein Vater Kürbiskerne verkauft hat, eine rumänische Spezialität. Dann fällt sein Blick auf den Fernseher und er verkündet stolz: "Mein Papa war sechzehn Jahre lang ein bekannter Fußballspieler." Es zählt nur der Traum. Ich möchte mehr wissen, aber die Tüte mit dem Aurolac ist mein Feind und außerdem geht das Fußballspiel weiter. Am Ende gewinnt Griechenland. Dani verschwindet jubelnd und grölend in der Menge. War er beim Anpfiff nicht für Portugal gewesen? Egal. Es zählt nur der Traum, nur der Augenblick.
Wäre der Hund nicht gewesen , dann hätte sich Frau Palmer nicht erschreckt und wäre nicht die Treppe runtergefallen und läge jetzt auch nicht im Krankenhaus. Schicksal. Frau Palmer ist 75 Jahre alt. Mit dem Schicksal hat sie schon öfters Bekanntschaft gemacht. Ihre Kinder sind gestorben. Seit zehn Jahren zieht sie mit ihrer mickrigen Rente und ein wenig Kindergeld ihre beiden Enkel auf, die Vollwaisen sind. Die drei schlafen in einem kleinen Raum, im Winter wird mit Eierschachteln geheizt.
Ihr Mann starb vor dreißig Jahren an hohem Fieber, weil die Ärzte ihn über die Osterfeiertage nicht behandeln wollten. Rumänische Krankenhäuser haben einen furchtbaren Ruf: Die Ärzte gelten als korrupt und die Patienten werden mangels Personal von ihren Angehörigen versorgt. Zum Glück hat die Enkelin schon Ferien und bringt der Oma täglich etwas zu Essen. Frau Palmer liegt auf der Operationswunde, damit alles besser verheilt, auch wenn es höllisch schmerzt. "Man versteht den Herrgott halt net immer", sagt sie, und es klingt keine Spur verbittert. Das einzige, was sie sich wünscht, ist, dass ihre Enkel Geld verdienen bevor sie stirbt. "Es ist nicht leicht, wenn man keinen mehr hat", sagt sie, die es wissen muss. Frau Palmer ist eine der letzten verbliebenen Deutschen in Rumänien. Jahrhunderte- lang haben die Banater Schwaben die Region geprägt und sich ihre deutsche Sprache und Kultur bewahrt, bis dann 1990, nach der Revolution, der große Exodus einsetzte. Heute leben außer Frau Palmer noch vier alte "Schwobinnen" in dem Viertel, das einst völlig deutsch war. Ich besuche Frau Palmer wieder, kurz nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden ist. Sie bewegt sich schwerfällig mit einem Gehgestell, ihr Gesicht kann die starken Schmerzen kaum verbergen. "Man muss es nehmen wie's kommt", sagt Frau Palmer. Dann lächelt sie, humpelt nach draußen und zeigt mir die Apfelbäume in ihrem kleinen Garten.
Es ist die Stille , die mir durch Mark und Bein geht. Nur ab und an zerreißt ein Schrei oder ein klagender Schluchzer die Luft. In diesem Krankenhaus liegen über siebzig Babys, aber sie haben es sich längst abgewöhnt, um Aufmerksamkeit zu betteln. Da ist ja niemand, der sie deshalb auf den Arm nähme. Denn hierher, auf die Dystrophie-Station für Kinder mit Ernährungsproblemen, kommen alle Neugeborenen, um die sich die Eltern nicht kümmern wollen, können, dürfen. Teenagerkinder, Alkoholikerkinder, Zigeunerkinder, Armutskinder, geplatzte Kondome. Hier treffen sich die unerwünschten Geburten. Die wenigsten kommen irgendwann in ihre leiblichen Familien zurück. Wer Glück hat, wird adoptiert oder kommt in ein privates Kinderhaus, die Pechvögel bleiben hier bis zu ihrem dritten Lebensjahr. Denisa ist so ein Pechvogel. Die kräftige Dreijährige liegt wie alle in einem Gitterbettchen und starrt in die Luft. Andere Kinder wippen im Sitzen hin- und her, rütteln am Gitter, schlagen den Kopf an die Wand oder lutschen am Daumen.
Für je 20 Kinder ist pro Schicht eine Frau angestellt. Ihre Aufgaben: Waschen, Anziehen, Wickeln, Essen bringen. Zeit für Zärtlichkeit bleibt bei 20 Babys nicht. Auch nicht zum Fläschchen geben: Das Kissen ein bisschen arrangiert, den Kopf ein bisschen gedreht, Sabbertuch hin, Flasche in den Mund - diese Selbsternährungstechnik lernt ein Baby schnell. Hierher komme ich zweimal die Woche für ein paar Stunden, um Denisa und die anderen ein wenig zu beschäftigen. Es ist die Kunst, ohne zehn Krakenarme auszukommen und trotzdem fünf Krabbler gleichzeitig auf der Matratze zu halten. Oder zwei Babys auf den Arm zu nehmen, mit lustigen Grimassen ein drittes zum Giggeln zu bringen und mit dem Fuß den Vierten zu kitzeln. Wer gerade nicht dran ist, schreit sich die Kehle aus dem Leib, vor allem die Älteren, die schon laufen können und Ball spielen wollen. Aber auch die Kleinsten heulen, sobald sie merken, dass sich eine Person im Raum bewegt, die keine Krankenschwester ist. Nach zwei Stunden ist das Chaos vorbei. Wer zurück ins Bettchen muss, brüllt wie am Spieß. Unter Kindergeschrei verlasse ich das Zimmer. Ich weiß, dass sich Denisa bald beruhigen und wieder an die Decke starren wird. Und dann wird sie wieder einkehren, die Stille - in das Haus der ungewollten Kinder.
Der Engel kriegt es einfach nicht gebacken: "Ich bringe euch, äh, was bringe ich denn?"- "Eine gute Nachricht", seufze ich zum wiederholten Mal. Es ist Weihnachtszeit und ich möchte ein Krippenspiel einstudieren, aber das ist nicht einfach mit zwölf verhaltensoriginellen Kindern: Bei den Liedproben prügelt sich Josef mit Maria, König Balthasar singt laut aber falsch, die Sterne verpassen ständig ihren Einsatz und der Hirte heult, weil er lieber König sein will. Aber nach ein paar harten Wochen ist es geschafft und in unserem Wohnzimmer brandet nach der gelungen Premiere der Applaus vieler Freunde auf. Zappelig und glücklich verbeugen sich die Kinder, Laurean, Marin, Dana und all die andern. Ihre Augen strahlen etwas seltenes aus: Die Kinder sind stolz auf sich selbst. Die vergessenen Seelen von Temeswar sonnen sich in einem Augenblick der Freude.
Infos über diesen "anderen Dienst" im Ausland: http://www.jev-online.de
Spendenkonto für das Kinderheim "Mutter und Kind": Deutsch-Rumänische Gesellschaft Bodensee e.V. Sparkasse Bodensee, BLZ 690 500 01, Konto-Nr. 64170, Stichwort: Kinderheim
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