"Kreativität braucht Mangel und Hunger"
BZ-INTERVIEW: Philosoph Richard David Precht über die Schule.
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Wie sähe die Schule aus, wenn wir sie noch einmal ganz neu erfinden könnten? Auf Einladung des Archivs der Zukunft diskutieren am Donnerstag im Theater Freiburg der Journalist Reinhard Kahl, der Architekt und Hartz-IV-Möbel-Designer Van Bo Le-Menzel, der Physiker und Tänzer Marco Wehr und der Autor und Philosoph Richard David Precht. Mit ihm sprach Jürgen Reuß.
Precht: Ich war gern in der Schule, um Kumpels zu sehen. Den Unterricht fand ich langweilig.
BZ: Sagen Sie doch mal was Gutes über die Schule.
Precht: Das bestehende Schulsystem erlaubt, häufiger abzutauchen und sein Gehirn in Sicherheit zu bringen.
BZ: Wo bleibt da die viel beschworene "Potenzialentfaltung"?
Precht: Die Vorstellung, dass Schule dazu da ist, jeden einzelnen jederzeit nach Kräften zu fördern, macht mir Angst. Weder Schule noch Eltern sollten ihre Kinder zu fordernd fördern. Ein Kind, das dreimal auf die Klaviertasten haut, kommt gleich in die Musikerziehung für Hochbegabte, dazu Ballettunterricht hier, ein Fremdsprachenkurs da – das kann es nicht sein.
BZ: Was stört Sie daran?
Precht: Kreativität braucht Mangel und Hunger. Wenn ich alles, auf das ich Lust habe, sofort bekomme, verliert es an Wert. Ich muss die Chance haben, mir selbst etwas zu erarbeiten, ohne dass Eltern mich dabei gleich überfördern.
BZ: Dann reicht ja das bestehende Schulsystem...
Precht: Nein. Den größten Teil des Schullebens verbringen Sie dort völlig nutzlos. Sie haben sechs verschiedene Fächer am Tag, und am Ende bleibt kaum was hängen.
BZ: Wie kann man das ändern?
Precht: Waldorf- und Montessori-Schulen machen beispielsweise mehr Projektarbeit. Ich bin kein Freund der Waldorf-Ideologie, aber der Gedanke, dass man Schule nicht in Fächer aufteilt, finde ich einen richtigen Ansatz. In der richtigen Welt gibt es auch keine Fächer.
BZ: Sondern?
Precht: Zusammenhänge. Nehmen Sie das Thema Geld: Das hat ökonomische, psychologische oder mathematische Facetten. Der Fächerunterricht dampft es auf Fragen ein, die Schüler gar nicht dazu haben, und die, die sie haben, bleiben unbeantwortet.
BZ: Wie bewerten Sie die Chancen für Kinder aus einfacheren Familien?
Precht: Vielen Kindern aus bildungsfernen Schichten wird Lernen in den Schulen als etwas Negatives vermittelt. Es wird keine Begeisterung geweckt, keine Neugier kultiviert. Wir bauen die Schule zurzeit ja nicht um die Bedürfnisse der Kinder herum, sondern zwängen sie in ein System hinein, das aus einer Zeit stammt, als man von Entwicklungspsychologie und Lerntheorie überhaupt keine Ahnung hatte.
BZ: Jetzt wissen wir mehr. Was sollten wir tun?
Precht: Schulen sollten einen möglichst großen Gestaltungsspielraum bekommen. Und die Kultusministerien sollten Änderungsprozesse unterstützend begleiten, etwa mit Transformationscoaches, die an den jeweiligen Schulen genau schauen, was sich zum Besseren verändern lässt.
BZ: Klingt doch nach einem gut vermittelbaren liberalen Modernisierungskonzept, das nicht zuletzt auch die Wirtschaft gern einfordert.
Precht: Wenn ich vor Wirtschaftsvertretern Vorträge halte, sind die auf meiner Seite.
BZ: Warum zögern die Kultusministerien dann?
Precht: Kultusministerien kennen so etwas wie Kreativabteilungen nicht. Da sitzen die Bürokraten der Vorgängerregierung, und die möchten vor allem eins: keine Mehrbelastung. Außerdem würden mehr Kompetenzen für die Schulen mit einem gewissen Machtverzicht der Behörden einhergehen, der Ministern schwer vermittelbar ist.
BZ: Also Schulen privatisieren?
Precht: Wenn Wirtschaftsvertretungen diese Prozesse bestimmten, wäre mir auch nicht wohler.
BZ: Also wird sich nichts ändern?
Precht: Doch. Die Digitalisierung zwingt dazu. Die Hälfte aller Menschen wird bald keinen Beruf mehr haben und lernen müssen, mit der freigesetzten Zeit umzugehen. Die andere Hälfte benötigt Fähigkeiten im komplexen Projektmanagement. In beiden Fällen brauchen Sie charmante Persönlichkeiten, die mit fremden Kulturen umgehen können, selbstständig, neugierig und gestaltend auf die Welt zugehen.
BZ: Können Eltern dabei helfen?
Precht: Eltern sind nicht meine Lieblingsbundgenossen. Sie interessieren sich in erster Linie fürs eigene Kind und tragen Leistungs- und Konkurrenzdenken oft noch verstärkt in die Schulen hinein.
BZ: Wie sieht es mit den Schülern aus?
Precht: Die finden meine Ideen oft gut, halten sie aber nicht für finanzierbar. Ich würde mich freuen, wenn wir in Zukunft wieder Kinder haben, die ihre Intelligenz darauf verwenden, an das Gute zu glauben und nicht tausend Einwände suchen, warum etwas nicht geht.
Öffentlicher Ideenabend mit Filmen und Gesprächen. Fr, 4. 11., 19 Uhr, Jesuitenschloss, Schlossweg 50, Freiburg.
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