Abgeordnetenmandate
Obergrenze für Bundestag: Kleine Parteien würden benachteiligt
Der Bundestag droht nach der nächsten Wahl zum Riesen-Parlament zu werden – weil das Wahlrecht darauf ausgelegt ist, die Wählerstimmen in der Sitzverteilung abzubilden. Soll man das ändern?
Do, 14. Apr 2016, 0:00 Uhr
Deutschland
Wir benötigen Ihre Zustimmung um BotTalk anzuzeigen
Unter Umständen sammelt BotTalk personenbezogene Daten für eigene Zwecke und verarbeitet diese in einem Land mit nach EU-Standards nicht ausreichenden Datenschutzniveau.
Durch Klick auf "Akzeptieren" geben Sie Ihre Einwilligung für die Datenübermittlung, die Sie jederzeit über Cookie-Einstellungen widerrufen können.
AkzeptierenMehr Informationen
"Sie haben 2 Stimmen" – so steht es bei der Bundestagswahl auf dem Stimmzettel, den die Wähler ausfüllen. Die Bürger können also eine Erststimme (das ist das Kreuzchen in der linken Spalte) und eine Zweitstimme (Kreuzchen in der rechten Spalte) vergeben. Mit der Erststimme wird der Kandidat oder die Kandidatin im Wahlkreis gewählt, in dem jemand wohnt. Die Zweitstimme gilt der Kandidatenliste, die die Parteien auf Ebene der 16 Länder aufstellen. Bis dahin, keine Frage, ist das Wahlrecht sehr einfach. Doch sind die Regeln, die festlegen, wie aus den beiden Kreuzchen auf dem Stimmzettel Parlamentssitze werden, ausgesprochen kompliziert. Nicht ohne Grund sagt Norbert Lammert, dass die Berechnungsmechanismen für die meisten Bürger ziemlich undurchsichtig seien.
Das Wahlrecht mischt nämlich zwei Prinzipien: das Mehrheitswahlrecht und das Verhältniswahlrecht. Im Mehrheitswahlrecht ziehen nur die Kandidaten ins Parlament ein, die in ihrem jeweiligen Wahlkreis die meisten Stimmen bekommen. Die anderen Stimmen fallen allesamt unter den Tisch. Nach diesem Verfahren wird zum Beispiel das britische Unterhaus bestimmt. Es hatte zur Folge, dass viele Jahre lang die Liberaldemokraten zwar zuweilen mehr als 20 Prozent der Stimmen, aber nur eine Handvoll Sitze bekamen. Ihre Kandidaten hatten nur in einer Handvoll Wahlkreisen die Nase vorn. Dass sie in anderen Bezirken auf den zweiten oder dritten Platz kamen, war bei der Sitzverteilung unerheblich.
Das Verhältniswahlrecht hingegen berücksichtigt – meist im Verbund mit einer Sperrklausel – alle Stimmen, die die Parteien bei Wahlen bekommen und überträgt dieses Verhältnis dann auf die Parlamentssitze.
Eigentlich gehören dem Bundestag 598 Volksvertreter an. Die Hälfte von ihnen wird in Wahlkreisen gewählt. Das Bundesgebiet wird vor einer Wahl also in 299 Wahlkreise aufgeteilt, in denen die örtlichen Parteigliederungen ihre jeweiligen Kandidaten aufstellen. Der Bewerber, der in einem Wahlkreis die meisten Erststimmen bekommt, zieht ins Parlament ein. Der Kandidat oder die Kandidatin hat ein so genanntes Direktmandat errungen. In Baden-Württemberg gewannen bei der Wahl 2013 in allen Wahlkreisen die CDU-Bewerber das Direktmandat. Bundesweit kamen CDU und CSU auf 236 Direktmandate, die SPD lag in 58 Wahlkreisen vorn, die Linken erzielten vier Direktmandate, und im Wahlkreis Berlin-Kreuzberg holte Hans-Christian Ströbele von den Grünen ein Direktmandat.
Die andere Hälfte der 598 Abgeordneten hat ein so genanntes Listenmandat. Bei der Auszählung der Stimmen wird geprüft, welche Parteien bundesweit die Fünf-Prozent-Hürde übersprungen haben. Die 298 Sitze werden auf diese Parteien verteilt – danach, welches Ergebnis eine Partei in einem Bundesland erzielt hat. In Baden-Württemberg zum Beispiel bekam die SPD 2013 kein Direktmandat, aber 20,6 Prozent der Zweitstimmen. Aufgrund dieses Ergebnisses zogen die ersten 20 Kandidaten, die die Südwest-SPD auf ihrer Landesliste aufgestellt hatte, in den Bundestag ein.
Nun kann es passieren, dass eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate holt, als ihr über das Wahlergebnis bei den Zweitstimmen zustehen. In Brandenburg zum Beispiel setzten sich 2013 die CDU-Bewerber in neun der zehn Wahlkreise durch. Die CDU bekam in Brandenburg aber nur 34,8 Prozent der Zweitstimmen. Demgemäß stünden ihr nur acht Sitze zu, sie hat aber in neun Wahlkreisen ein Direktmandat erzielt. Die Folge: Die Brandenburger CDU hat ein Überhangmandat, sprich: einen Sitz mehr, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis eigentlich zusteht.
Damit das Zweitstimmen-Votum der Bürger exakt im Parlament abgebildet wird, gibt es Ausgleichsmandate: Die Zahl der Abgeordneten wird so lange erhöht, bis das Wahlergebnis bei den Zweitstimmen wiedergegeben ist. Bei der Wahl 2013 waren es nicht weniger als 29 Ausgleichsmandate. Die Folge: Der Bundestag hatte nach der Wahl nicht 598 Mitglieder, sondern 631 Mitglieder (aktuell sind es 630, weil seither eine Parlamentarierin ausgeschieden ist). Das ist im internationalen Vergleich eine stolze Zahl. Die knapp 320 Millionen US-Bürger zum Beispiel begnügen sich im nationalen Kongress mit 435 stimmberechtigten Abgeordneten und 100 Senatoren.
Nach der Wahl 2017 könnte der Bundestag noch viel größer werden und womöglich bis zu 700 Sitze haben. Immerhin ist es – Stand heute – wahrscheinlich, dass auch AfD und FDP den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde schaffen. "Überhänge" entstehen wie gesagt, wenn in einem Land das Ergebnis in den Wahlkreisen und das Zweitstimmenergebnis stark auseinanderfallen. Genau das könnte 2017 in besonderer Weise der Fall sein. In Baden-Württemberg zum Beispiel war die CDU bei der Wahl 2013 in allen Wahlkreisen erfolgreich. Sie schnitt aber auch bei den Zweitstimmen stark ab und kam auf einen Wert von 45,7 Prozent. Überhangmandate fielen also nicht an. Gut möglich, dass die Christdemokraten auch 2017 in vielen Wahlkreisen im Südwesten reüssieren. Dafür ist ja nur entscheidend, dass der CDU-Bewerber mehr Stimmen hat als jeder andere Wahlkreisbewerber. Der Blick auf die aktuellen Umfragen zeigt aber, dass die CDU/CSU an Zuspruch verloren hat. Womöglich bekommt die CDU 2017 im Südwesten also deutlich weniger als 45,7 Prozent der Zweitstimmen. Das heißt: Das Ergebnis in den Wahlkreisen und das Zweitstimmenergebnis fallen deutlich auseinander, womit Überhang-, aber eben auch Ausgleichsmandate entstehen, was wiederum zur Folge hat, dass sich die Gesamtzahl der Sitze im Parlament deutlich erhöht.
Lammert meint, dass vorab eine Höchstzahl an Sitzen festgelegt werden soll. Er schlägt vor, sie auf 630 zu bestimmen. Damit würden "Überhänge" nur so weit ausgeglichen, bis die Höchstzahl erreicht ist. Das Zweitstimmenergebnis würde damit möglicherweise nicht mehr in Gänze im Parlament abgebildet. Es gäbe also, salopp gesagt, Zweitstimmen erster und zweiter Klasse. Das ist besonders für die kleineren Parteien misslich. Ihre Bewerber schaffen es ja nur ganz selten, in einem Wahlkreis mehr Stimmen zu haben als jeder andere Kandidat. Abgeordnete der Linkspartei und der Grünen ziehen somit fast ausschließlich über Listenmandate in den Bundestag ein. Das galt in den früheren Wahlperioden auch für die FDP. Dem derzeitigen Bundestag gehören die Liberalen nicht an, weil sie 2013 an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten. Überspringt die AfD diese Hürde, werden auch ihre Abgeordneten wohl ausschließlich Listenmandate haben.
Nach früheren Bundestagswahlen wurden die Überhangmandate gar nicht ausgeglichen – ohne dass dies als undemokratisch galt. Nur hat der Bundestag inzwischen eben beschlossen, dass es die volle Kompensation gibt – just die volle Kompensation, die dazu führen kann, dass der Bundestag ein Riesen-Parlament wird. Aus dieser Verlegenheit käme man heraus, wenn es nicht 299, sondern nur 200 oder 250 Wahlkreise gäbe. Dann würde das Parlament auch mit vielen "Überhängen" nicht allzu groß. Für die Wahl 2017, so hat es der Bundestag schon beschlossen, bleibt es aber bei 299 Kreisen.
Kommentare
Liebe Leserinnen und Leser,
leider können Artikel, die älter als sechs Monate sind, nicht mehr kommentiert werden.
Die Kommentarfunktion dieses Artikels ist geschlossen.
Viele Grüße von Ihrer BZ