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Sachbuch

Im Osten anders als im Westen: Wie Christina Morina Demokratie in ihrem Buch "Tausend Aufbrüche" beschreibt

Thomas Steiner
  • Fr, 28. Juni 2024, 11:30 Uhr
    Literatur & Vorträge

     

Vor zwei Wochen bekam sie für ihr Buch "Tausend Aufbrüche" den Deutschen Sachbuchpreis. Nun kommt die Historikerin Christina Morina zu einem Vortrag über die deutsche Demokratie an die Uni Freiburg.

Das „Wir“ der DDR-Tradition: Teilnehmerinnen einer Leipziger Montagsdemonstration im März 1990 Foto: Frank Kleefeldt
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Die Begründung war etwas wolkig. "Morina liefert mit diesem Buch überraschende und notwendige Impulse für die aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen. Ihr Buch riskiert viel, ohne zu polarisieren – Demokratie ist Prozess, kein Zustand", hieß es in der Begründung für die Verleihung des Deutschen Sachbuchpreises an die Historikerin.

Die Jurorinnen und Juroren hätten es auch so sagen können: "Tausend Aufbrüche" ist ein hochoriginelles Buch zur jüngeren deutschen Geschichte. Es ist außerdem ein politisch brisanter Beitrag zur Debatte, warum sich Ostdeutschland von Westdeutschland unterscheidet. Und es ist ein anschauliches Buch über Demokratie, also auch staatsbürgerlich wertvoll.

Seit 2019 ist sie Professorin in Bielefeld

Christina Morina, 1976 in Frankfurt (Oder) geboren, hat Geschichte, Politikwissenschaft und Journalistik in Leipzig und in den USA studiert und an den Universitäten Jena und Amsterdam gearbeitet. Ihre Habilitation schrieb sie über "Die Erfindung des Marxismus". Seit 2019 ist sie Professorin in Bielefeld (eine Bewerbung an der Freiburger Universität war seinerzeit erfolglos).

Was sind nun die "Tausend Aufbrüche"? Es sind, blumig bezeichnet, die vielen demokratischen Initiativen, die 1989/90 in der verschwindenden DDR aufkamen, als es darum ging, den ostdeutschen und womöglich auch den westdeutschen Staat neu zu begründen. Ihre Konzeptpapiere und Demoaufrufe sind im Archiv des Leipziger Hauses der Demokratie gesammelt.

Das ist einer der Quellenbestände, die Morina ausgewertet hat. Die anderen sind von der Stasi aufbewahrte ostdeutsche Bürgerpost an Staatsführung, Ministerien und Medien der DDR, vom Bundespräsidialamt aufbewahrte westdeutsche Bürgerpost an die Bundespräsidenten Karl Carstens und Richard von Weizsäcker sowie Bürgerschreiben an die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat (GVK) der Jahre 1992/93.

Morina nutzt die viele Post, um nachzuforschen, wie man sich in Ost und West Demokratie vorgestellt hat. Die DDR war ja nur auf dem Papier eine solche. Aber den Anspruch trug die Staats- und Parteiführung vor sich her. Alle DDR-Bürger sollten "zur sozialistischen Menschengemeinschaft" zusammenwachsen. Dieses Pathos hatten auch die Unzufriedenen im Land verinnerlicht, so Morina. Als "Menschen", weniger als Bürger, klagten sie in ihren Eingaben und Briefen Rechte ein.

Demokratie als alltägliche Praxis

Im Westen verstanden sich die Leute dagegen als Wahlbürger, stellt Morina fest. Ein Kapitän der Bundesmarine beschwerte sich 1980 beim Bundespräsidenten, er habe auf See mangels Wahlunterlagen "meiner Pflicht zur Bundestagswahl" nicht nachkommen können. Die parlamentarische Demokratie, so Morina, sei als Ordnungsrahmen "etabliert und akzeptiert" gewesen.

Als 1989 nach der Revolution dann über die neue Staatlichkeit diskutiert wurde, habe sich im Osten trotz der Ablehnung des Sozialismus die Tradition bei den Bürgerrechtlern fortgesetzt: "Es ging", so Morina, "bis weit in das Jahr 1990 hinein um Demokratie als alltägliche Praxis und erstaunlich wenig um Demokratie als politische Ordnung".

Deshalb war auch mehr Bürgerbeteiligung ein Ziel. Auch aus dem Westen kamen solche Ideen. Morina zitiert einen Breisgauer, der ein "Initiativrecht für Bürgerinitiativen" vorschlug, als Form direkter Demokratie. Daraus wurde nichts, wie auch der vom Zentralen Runden Tisch 1990 vorgelegte Verfassungsentwurf parlamentarisch abgelehnt wurde. Ein spezifisch ostdeutscher Beitrag zur Verfassung kam nicht zustande. Die tausend Aufbrüche, eine, so Morina, "demokratische Vorstellungswelt ganz eigener Prägung", wurden ignoriert.

Nachsehen gegenüber dem völkischen Diskurs

Sie verschwanden aber nicht: Was sich in den "Wir sind das Volk"-Rufen der Demos 1989 manifestiert hatte, ging ein in die Pegida-Bewegung und vor allem in die Programmatik der im Osten so erfolgreichen AfD. Andere Parteien, die an ihren westlichen parlamentarischen Konzepten festhielten, hatten das Nachsehen gegenüber dem völkischen Diskurs.

Dass die Auseinandersetzung mit diesem nicht offensiv geführt wurde, hält Morina für fatal: Es sei "ein allen Kanzlern seit der Deutschen Einheit zu bescheinigendes Versäumnis, sich der politisch-kulturellen Entwicklung in den ostdeutschen Bundesländern mit der gebotenen Aufmerksamkeit zuzuwenden," schreibt sie. Auch und gerade Angela Merkel sei das anzulasten. Trotz ihrer ostdeutschen Herkunft habe sie der Herausforderung "rat- und hilflos" gegenübergestanden.

Und so ist aus den tausend Aufbrüchen etwas ganz anderes geworden. Das "Wir" von damals ist heute "dem dahinterstehenden Ideal – einem humanen gesellschaftlichen Miteinander – eher abträglich". Morina will allerdings nicht alle Hoffnung fahren lassen: Die tausend Aufbrüche zeigten, dass die Deutschen 1989/90 ihre Demokratie als "anziehende, aber eben auch anstrengende Alltäglichkeit verstanden, debattiert und mitunter auch herausgefordert haben. Diese demokratische Alltäglichkeit ist ein starkes Fundament", meint sie am Ende. Es muss aber ein starkes Bauwerk darauf gesetzt werden.

Christina Morina: Tausend Aufbrüche. Siedler, München 2023, 400 Seiten, 28 Euro. Vortrag: Samstagsuniversität, Freiburg, Uni, Kolleggebäude I, Hörsaal 1010, Samstag, 28. 6., 11.15 Uhr. Einlass ab 10.30 Uhr.

Ressort: Literatur & Vorträge

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