Gleichgültig ertragene Vorlesungen und nervöse Prüfungen
Fürs Studium in Russland gibt es nur magere Stipendien, viel müssen jobben - und das Studieren dient häufig allem, nur nicht der Wissensaneignung.
Wir benötigen Ihre Zustimmung um BotTalk anzuzeigen
Unter Umständen sammelt BotTalk personenbezogene Daten für eigene Zwecke und verarbeitet diese in einem Land mit nach EU-Standards nicht ausreichenden Datenschutzniveau.
Durch Klick auf "Akzeptieren" geben Sie Ihre Einwilligung für die Datenübermittlung, die Sie jederzeit über Cookie-Einstellungen widerrufen können.
AkzeptierenMehr Informationen
Die Studentenschaft in Russland ist heute keine Kraft, die Einfluss auf die Entwicklung der Gesellschaft ausübt. Die Studenten haben keine gemeinsamen Ideen und sie schließen sich nicht zu einer politischen Bewegung zusammen. Die Hochschule ist heute die schlichte Fortsetzung von Schule - oder auch die Flucht vor der militärischen Dienstpflicht. Was das Studium nicht ist: ein Prozess der Wissensaneignung. Vielmehr sind es fünf Jahre gleichgültig ertragener Vorlesungen und nervöser Prüfungen, die nur dem Zweck dienen, das Diplom zu bekommen.
Die russischen Studenten sind nicht nur schlecht organisiert und passiv, sie sind auch unfähig, ihre Bedürfnisse zu formulieren und offen darüber zu sprechen. Deshalb wurde das Stipendium lange Zeit nicht erhöht und ist auch jetzt noch karg - zur Existenzsicherung reicht es noch immer nicht. Trotzdem: Es ist Teil der staatlichen Unterstützung für die Ausbildung. Und es ist verknüpft mit Leistungsnachweisen: Wer nur die Note "befriedigend" bekommt, verliert schon für ein Semester sein Stipendium. Aber die Geldnot hindert dann die Studenten, die Leistungen zu verbessern.
Die aktuelle Stipendienerhöhung wurde nicht von den Studenten gefordert, sondern von oben initiiert, quasi als "Geschenk" zur Wahlperiode. Deshalb betont nachträglich die Partei "Vereinigtes Russland", die Präsident Putin unterstützt, ihr Votum für dieses Gesetz: Das soll Stimmen bringen. Die Studentenschaft macht ihre Interessen an keiner Stelle hörbar und deutlich, deshalb sind ihre Anliegen höchstens kurzfristig ein Thema im Wahlkampf. Entweder die Eltern retten heute den Studenten vor der Armut, oder Jobs. Aber die Hilfe der Eltern nimmt die Entscheidungsfreiheit und der Job stört das Studium, das tägliche Unterrichtsbesuche und konzentriertes Lesen erfordert. Einige Studenten finden in diesem Zwiespalt nur den Ausweg, das Studium abzubrechen. Damit ist das Geld, das der Staat in diese Studenten investiert hat, "verschwendet". Und für talentierte Leute aus armen Familien ist der Zutritt zur Hochschulbildung ganz ausgeschlossen. Wenn sie 18 Jahre alt sind, werden sie zu Familienernährern und müssen zwischen Ausbildung und Arbeit in der Regel letzteres wählen, denn sie wissen gut, dass das Stipendium plus der Nebenverdienst für ihre Familien nicht genügen würden.
Jedes Jahr wächst die Zahl der Studenten, die auf Staatskosten studieren, obwohl schon heute die Regierung die Ausbildung des einzelnen Studenten nicht vollständig bezahlen kann. Dazu kommt, dass etliche Hochschulabsolventen heute schon keine Arbeit mehr finden. Hochschuldiplome an sich sprechen nicht unbedingt für fundierte Kenntnisse. Eine mögliche Deutung wäre, dass die Idee der geringe Förderung von möglichst vielen Studierenden letzten Endes unwirksam ist. 50 Prozent der Studienplätze an russischen Hochschulen werden heute direkt vom Staat finanziert. So will es das Gesetz. Die geförderten Studienplätze zu verringern, ist ein höchst unpopulärer Vorschlag.
An dieser Situation wird sich bis zu den Präsidentschaftswahlen im März 2004 nicht viel ändern. Jedenfalls auf der Gesetzesebene. In den Hochschulen selber sind schon inoffizielle Veränderungen im Gange: Dort werden vereinzelt von Studenten "Sonderbezahlungen" für besonders begehrte Fächer verlangt. Gegen diese Art der Bestechung versucht der Staat vorzugehen, bislang allerdings vergeblich. Das Problem der Ausbildungsförderung bleibt weiterhin aktuell. Und nach der voraussichtlichen Wiederwahl von Präsident Putin wird es unbedingt nötig sein, es zu lösen.
Julia Golobokova
Kommentare
Liebe Leserinnen und Leser,
leider können Artikel, die älter als sechs Monate sind, nicht mehr kommentiert werden.
Die Kommentarfunktion dieses Artikels ist geschlossen.
Viele Grüße von Ihrer BZ