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Ein Paradies für Maulwürfe

  • Ute Scheunemann

  • Do, 28. November 2002
    Zisch

     

Warum eigentlich aufräumen, wenn das Zimmer kurz darauf wieder verwahrlost? Eine Hommage an die Unordnung.

Aufgeräumte Zimmer sind der Traum jeder Mutter und der Albtraum jedes Kindes. Denn nirgends sonst verbreitet sich Unordnung schneller - das Tagebuch einer Verwahrlosung:

Montagmorgen. Aufwachen. Aufwachen, die Augen aufschlagen und das Paradies erblicken: Ordnung. Seltene, friedliche Ordnung. Die gefällt mir eigentlich ganz gut. Jetzt, da sie da ist. Oma Hilde war gestern zu Besuch. Mamas Mutter, nicht Tante Ruth. Leider Gottes, denn Tante Ruth kann man so gut hintergehen. Sie hat meist nicht mehr Elan, als einen prüfenden Blick in mein Zimmer zu werfen, einen lobenden Kommentar meinen Eltern gegenüber fallen zu lassen, "Gut habt Ihr sie erzogen, die Kleine. Ihr Zimmer ist tadellos, tadellos, sage ich", und sich wieder Kaffee und Kuchen zuzuwenden. Klasse, dass sie bisher nicht einen meiner Schränke geöffnet hat, fataler könnte so ein Familiennachmittag nicht enden. Denn die mühsam zugepressten Schubladen und Türen gleichen einer Wasserstoffbombe. Würde Tante Ruth sie öffnen, bumm! Ein Regen aus flüchtig aufeinander gestapelten Blättern, gelesenen Zeitschriften, getragenen Klamotten, Stofftieren und Bastelmaterial würde sich über sie ergießen. Aber es war nun einmal Oma Hilde, die uns besuchte. Eine Frau, die sich im Alter von 83 Jahren noch auf die Knie herablässt, um nach Staubflocken unter meinem Bett zu fahnden. Insofern befand sich mein Zimmer in einem Topzustand: Socken nach Farbe und Material geordnet, Pullover exakt Rand auf Rand gelegt, verschwunden die Pille, Zigaretten und Boxershorts, die neue Cosmopolitan verstaut und dafür Kafka in die Regale gestellt. Hat mich den ganzen Samstag gekostet. Nun ist Montag, Oma ist wieder abgereist und ich um 50 Euro reicher.

Dienstagmorgen. Aufwachen. Aufwachen, die Augen aufschlagen und ein Paradies erblicken. Mein Zimmer befindet sich auch heute in einem tadellosen Zustand. Mehr oder weniger. Es hat sich bereits wieder ein kleines Häuflein Elend, sprich Mathehausaufgaben, auf dem Schreibtisch neben einer halb leer gegessenen Packung Rocher und einem von Anne benutzten Glas angesammelt. Außerdem drei neue Bücher von Marei, die sie vergessen hat. Mein Schreibtisch, eine muntere Sozialstation. Weiterhin auch Auffanglager für Mareis und Annes Versuche, sich die Fußnägel gestreift zu lackieren. Das Ergebnis: kleine eingetrocknete Seen der Marke Manhattan. Vor dem Bett kringeln sich sowohl Socken und Wäsche von gestern, als auch Stoffreste einer Nähaktion der zwei gescheiterten Bodypainterinnen, die sich schließlich auf Modedesign spezialisierten. Das lässt sich ertragen.

Mittwochmorgen. Aufwachen. Aufwachen, die Augen aufschlagen und ein Paradies erblicken. Es ist kein Paradies mehr. Gestern hatten wir einen harten Tag und Marei ihr erstes Date mit Mark. Mark ist natürlich mal wieder ein Griff ins Klo, aber sie will es nicht wahrhaben. Da es das erste Meeting war, startete unser Kleeblatt eine ausführliche Klamottenberatungssession mit Styling und allem, was dazugehört. Natürlich bei mir, schließlich bietet sich ein aufgeräumtes Zimmer phänomenal gut für ein solches Unterfangen an. Jetzt ist der Fußboden zur Hälfte mit dem Inhalt meines Kleiderschrankes bedeckt. Anne war so klug, einen schmalen Gang zwischen Tür und Nachttisch mit integriertem Spiegel freizuhalten.

Donnerstagmorgen. Aufwachen. Aufwachen, die Augen aufschlagen und ein Paradies erblicken. Ein Paradies für Maulwürfe und kleines Viehzeug, das kein Mädchen gerne in seinem Zimmer als Untermieter hausen lässt. Dieser Zustand ist fast nicht mehr in Worte zu fassen: Der nett angelegte Gang vom Vortag ist längst hinüber. Jetzt bestimmen Wokpfanne, vier schmutzige Teller, unzählige Besteckteile und acht Gläser das Bild. Die Jungs waren auf Spontanbesuch gekommen und hatten unheimlichen Hunger. Es wäre Tierquälerei gewesen, sie vor der Tür stehen zu lassen. Nach dem Essen wurde meine Schnapsidee der Erweiterung des Ikea-Regalsystems prompt in die Tat umgesetzt. Dass die Jungs zum Anbringen der Dübel nicht vorschriftsmäßig zwei Löcher in die Wand gebohrt, sondern ungefähr zehn Versuche benötigt hatten, störte sie nicht weiter. Die Wand ähnelt nun einem Schweizer Käse. Der Boden und der Plunder darauf ist mit einer dünnen Putzschicht überzogen. Als die Wohnung gegen Abend endlich still und verlassen lag, begann die eigentliche Arbeit des Tages. Zwei Stunden später war meine Kreativkollage für den Kunstunterricht vollendet, der Boden jedoch mit mindestens fünf Lagen Papier, Zeitungen, Katalogen und Klebstoffen bedeckt.

Freitagmorgen. Aufwachen. Aufwachen, die Augen aufschlagen und ein Paradies erblicken. Leider nicht das meine. Stattdessen die Umrisse eines Wohnzimmers. Verwundert stehe ich auf. Weshalb ich die Nacht auf dem Sofa verbracht habe, kann ich mir nicht mehr erklären. Dann schlägt mich die Erkenntnis beinahe auf den sauberen Boden: Der Typ, der da neben mir auf dem Sofa gepennt hat, spricht Bände. Gestern haben wir den gesamten Tag bei Marei verbracht. Ihr großer Bruder ist seit gestern mein Freund und ich habe bei ihm übernachtet. Friede, Freude, Eierkuchen multipliziert mit Verliebtheit. Ein herrliches Gefühl, mit dem ich per U-Bahn nach Hause fahre, die Wohnungstür aufschließe, in den Flur trete und meine Zimmertüre öffne. Besser gesagt, versuche zu öffnen. Die Tür ist verschlossen. Davor stehen einige Kisten, groß wie Umzugkartons. Auf ihnen ein Zettel: "Liebes Kind, sei doch mal so gütig und besorge dir bei uns den Schlüssel, um deinen Saustall wieder auf Vordermann zu bringen! Deine besorgten Eltern." Wahrscheinlich war der Verwesungsgestank zu intensiv, die Ratten zu laut. Ich mag Unordnung. Menschen, die Ordnung halten, sind nur zu faul zum Suchen. Unordnung ist auch etwas Soziales für Mutter und Mäuse, damit beide Fraktionen innerhalb des Beschäftigungstherapieprogramms nicht unterfordert werden. Man kann ja nicht immer nur an sich denken. So warte ich auf den nächsten Besuch von Oma Hilde.

Ressort: Zisch

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