Nach der Attacke

Expertin: "Ein akutes Gefühl der Bedrohung"

Der Messerstecher von Grafing war zwei Tage vor der Attacke in psychischer Behandlung. Die Psychiaterin Nahlah Saimeh spricht im Interview über den Umgang mit psychisch Kranken.  

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Trauer nach der Messerattacke Foto: dpa
Zwei Tage bevor der Messerstecher von Grafing am Dienstag einen Mensch an einer S-Bahnstation erstochen hat, war er bereits in einer psychiatrischen Einrichtung zur Behandlung. Seine Großeltern setzten sich gar für eine behördliche Zwangseinweisung ein – der aber offenbar nicht entsprochen wurde. An welche Kriterien eine solche gebunden ist, darüber sprach Michael Saurer mit der Forensikerin Nahlah Saimeh.

BZ: Frau Saimeh, der Täter von Grafing war wohl verwirrt. Wann wird aus einem psychisch kranken Mensch ein Gewalttäter?

Saimeh: Zunächst ist es wichtig, zu betonen, dass psychisch kranke Menschen nicht gewalttätiger sind, als andere Menschen auch. Oft ist sogar das Gegenteil der Fall. Menschen mit Depressionen haben zum Beispiel ein ganz geringes Risiko, gewalttätig zu werden. Anders verhält es sich bei Erkrankungen aus dem schizophrenen Bereich. Durch die deutlich gestörte Wahrnehmung der Realität und durch Wahngedanken steigt das Risiko für gewalttätige Handlungen. Zumindest, wenn nicht behandelt wird.

BZ: Was muss ich mir unter einer gestörten Wahrnehmung vorstellen?

Saimeh: Man muss da verschiedene Formen unterscheiden. Häufig gibt es impulsive, wenig geplante Taten, aus einem akuten Bedrohungserleben heraus oder unter dem Einfluss befehlender Stimmen. Es gibt aber auch Taten, die aus wahnhaften Motiven von langer Hand geplant werden. Zum Beispiel die Frau, die glaubt, dass ihre junge Nachbarin sie nachts immer vergewaltigen würde. Das erlebt sie regelrecht körperlich – und eines Tages beschließt sie, die Frau zu töten. Irgendwann tritt sie bei ihr die Tür ein und ersticht sie.

BZ: Und bei einer impulsiven Tat, was geht da im Täter vor?

Saimeh: Das sind Menschen, die sich etwa durch andere Leute verfolgt und bedroht fühlen, banale Gesten und Blicke auf sich beziehen, die erleben, dass andere Menschen ihnen die Gedanken entziehen. Dann kann es passieren, dass diese Patienten plötzlich wahllos auf andere einschlagen, weil sie glauben, sich retten zu müssen – auch wenn es keine echte Bedrohung gibt.

BZ: Wann wissen die Ärzte, wenn jemand wirklich gefährlich ist?

Saimeh: Da müssen mehrere Faktoren zusammenkommen: Das Vorliegen einer schizophrenen Psychose, Rauschmittelkonsum, also der Konsum von Alkohol oder Drogen, sowie in einigen Fällen eine dissoziale Persönlichkeitsstörung, also die generelle Bereitschaft, sich über Normen und Gesetze der Gesellschaft hinwegzusetzen. Kommen zumindest die ersten Faktoren zusammen, steigt das Risiko für eine Gewalttat.

BZ: Ab wann ist das so groß, dass man denjenigen in die Psychiatrie einweisen muss?

Saimeh: Das ist rechtlich klar geregelt. Jeder Mensch hat das Recht auf Selbstbestimmung und das bedeutet, auch ein Recht auf Krankheit. Das gilt auch für psychische Erkrankungen. Es gilt nur dann nicht, wenn von demjenigen eine unmittelbar bevorstehende Gefahr für sich oder für Dritte ausgeht. Etwa wenn ein Mensch sich infolge der Psychose verfolgt fühlt und vor lauter Angst auf der Brücke steht und hinunter springen will, um sich vor seinen vermeintlichen Verfolgern zu retten. Das ist eine unmittelbar bevorstehende Selbstgefährdung, die nur durch Zwangseinweisung abgewendet werden kann. Mit Worten würde man nicht an ihn herankommen. Das gleich gilt, wenn er unmittelbar andere Personen konkret tätlich bedroht.

BZ: Der Messerstecher von Grafing konnte – entgegen des Wunsches der Großeltern – nicht zwangseingewiesen werden.

Saimeh: Solange keine bevorstehende Bedrohungslage erkennbar ist, kann man niemanden gegen seinen Willen festhalten. Das ist im Einzelfall eine vertrackte Situation, denn der Mensch ist erkennbar schwer krank, benötigt Behandlung, hat auch einen Anspruch darauf, kann ihn aber selbst nicht einfordern. Und die gesetzlichen Rahmenbedingungen für Zwang sind sehr eng definiert.

BZ: Wenn jemand nun doch eingewiesen werden muss. Wie lange bleibt derjenige dann in der Regel in der Einrichtung?

Saimeh: Da muss man unterscheiden, ob jemand in die Allgemeine Psychiatrie oder eine forensische Klinik kommt. In erstere kommt man, wenn man psychisch krank ist und entweder sich selbst behandeln lassen möchte oder durch Beschluss des Amtsgerichts eingewiesen wird. Dort ist man oft nur wenige Tage bis Wochen. Wer aber infolge einer psychischen Störung eine schwere Straftat begangen hat und deswegen schuldunfähig ist, wird durch Gerichtsurteil in der Forensischen Psychiatrie untergebracht. Das sind hoch gesicherte Spezialkliniken. Der Vorteil dort ist, dass man jemanden über Jahre hinweg behandeln kann – so lange bis die Person nicht mehr gefährlich ist. Die Forensik macht da einen guten Job, diese Menschen werden in der Regel alle nach einigen Jahren wieder entlassen. Gerade bei schizophrenen Patienten werden von 100 entlassenen Patienten nur noch 5 mit kleineren Straftaten auffällig, etwa Ladendiebstahl oder Schwarzfahren. Ohne therapeutische Nachsorge und Medikamente geht es aber meistens nicht.

Dr. Nahlah Saimeh ist Direktorin des Zentrums für Forensische Psychiatrie Lippstadt und im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie.

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