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Die erstaunliche Kraft eines Kindes

NEU IM KINO: Die berührende Berlin-Odyssee "Jack".  

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Stark: Ivo Pietzker als Jack  | Foto: Camino
Stark: Ivo Pietzker als Jack Foto: Camino
Jack gibt es wirklich. Einen Jungen diesen Namens und eine sekundenkurze Begegnung mit dem Regisseur. Edward Berger erzählte davon bei der Freiburg-Premiere seines Dramas, das im Februar die Berlinale begeisterte und jetzt in unsere Kinos kommt: Er kickte er mit seinem Sohn im Garten, als ein Junge am Zaun vorbeilief, die beiden winkten, lachten, grüßten sich, und der andere ging fröhlich weiter, den wippenden Schulranzen auf dem Rücken. Berger wunderte sich, wieso ein Kind am Sonntagnachmittag mit dem Ranzen durch die Gegend marschiert, und der Sohn erzählte ihm, das sei sein Schulkamerad Jack, der sei am Wochenende immer bei seiner Mutter und gerade wieder auf dem Rückweg ins Heim.

So leichtfüßig, zuversichtlich, beherzt? Berger hätte erwartet, dass ein Heimkind sich mit gesenktem Kopf zu seiner Zwangsbleibe schleppen würde. Die Freude und federnde Energie, die dieser fremde Junge ausstrahlte: Das war die Initialzündung für seinen Film. Die Handlung erfand er dann (mit Co-Autorin Nele Mueller-Stöfen) völlig frei – aber wie sollte er einen Jack finden? Das Casting lief monatelang ohne Erfolg. Bis, am letzten Tag – Berger: "als allerletzter, regennass und im roten Ferrari-T-Shirt" ein zehnjähriger Berliner aufkreuzte, der noch nie vor der Kamera gestanden hatte und schon in der ersten Improvisation alle verblüffte mit seiner Wucht und Präsenz.

Ivo Pietzcker ist der Glücksfall dieses Films. Mit seinem Gesicht, das so gar nicht gefällig ist, aber glaubhaft und schön in Ernst und Einsamkeit, Sehnsucht und Enttäuschung. Er allein trägt die Geschichte – und umgekehrt inszeniert "Jack" auch nur ihn. Kameramann Jens Harant drehte fast das gesamte Drama auf den Knien, um nie von oben herab, sondern auf Augenhöhe dieses Kind zu zeigen, auf dessen Schultern alle Verantwortung lastet, weil keiner da ist, der sie trüge. Schon gar kein Vater. Jack kennt seinen nicht, auch nicht den seines sechsjährigen Bruders Manuel (Georg Arms). Sanna, die Mutter (Luise Heyer), liebt ihre Jungs, aber sie ist mit ihren immerhin 26 Jahren nicht halb so erwachsen wie Jack. Und sowieso meistens weg, zum Arbeiten oder bei einem neuen Liebhaber.

So hält Jack den Laden allein am Laufen, schon morgens im Sauseschritt zwischen Frühstückmachen und Schulbeginn. Als er einmal das Badewasser für Manuel zu heiß einlaufen lässt, verbrüht sich der Kleine, die kindliche Familie muss zum Jugendamt – und Jack ins Heim. Er ersehnt die Ferien, aber die Mutter vertröstet ihn am Telefon: Ich hol dich ein paar Tage später ab, das macht doch nichts, mein Schatz, oder? Doch vorher wird Jack von einem anderen Jungen übel drangsaliert und des Fernglases beraubt, das ihm sein Bettnachbar über die Ferien dagelassen hat, der größte, vielleicht einzige Beweis von Freundschaft und Sympathie, den Jack je erlebt hat. Er schlägt verzweifelt zu – und muss fliehen. Zuhause ist die Tür verschlossen, Sanna weg, der Schlüssel nicht im Versteck und der Bruder bei einer Freundin geparkt.

Jack macht sich auf die Suche nach der Mutter, mit Manuel im Schlepptau. Ihre Odyssee zeigt ein Berlin jenseits allen Hauptstadtglanzes, aber auch ohne Plattenbautristesse oder Underdogkriminalität. Diese Stadt ist einfach ein großer, unwirtlicher Ort, in dem streunende Kids nicht weiter auffallen – sie könnte auch in jedem anderen Land liegen. Dazu passt, dass der Wahlberliner Regisseur, der 1970 in Wolfsburg geboren wurde und in New York studierte, auf Berlinismen oder Türksprech konsequent verzichtet. Er macht keine Schublade auf, in die sein Film einsortiert werden könnte.

Warum Jack nicht zerbricht? Weil er funktionieren muss. Essen organisieren und einen Platz zum Schlafen. Ex-Freunde der Mutter aufspüren, die noch einen Schlüssel haben könnten. Zuversicht ausstrahlen. Anrufen, auch wenn immer nur die ewig gleiche muntere Ansage auf ihrem Handy zu hören ist. An der Tür klingeln, auch wenn die immer zu ist. Dann halt nochmal einen Zettel ins leere Schlüsselversteck legen. Durchhalten.

Klar kommen die Erwachsenen schlecht weg in diesem Film. Totalausfälle wie jener Ex der Mutter, der in einer grotesk überzeichneten Szene völlig drogenlethargisch vor sich hin stiert, sind die wenigsten. Aber selbst der eine, der sich ein wenig kümmert um die Jungs, hat dann doch keine bessere Idee, als sie zur Polizei zu fahren. Wen haben sie eigentlich noch, auf den Verlass ist? Manuel hat Jack, und Jack – sich selbst. Auf eine seiner Nachrichten an Sanna schreibt er: "Wir suchen dich. Wir brauchen" – "dich", erwartet der Kinozuschauer, aber Jack schreibt "den Schlüssel".

Er weiß, dass nur er der Schlüssel seiner Zukunft sein kann. Und wenn er am Ende eine Entscheidung trifft, kühl, einsam, hart, dann ist das kein deprimierendes Finale dieses berührenden, bestürzenden Films. Vielmehr Ausdruck der unzerstörbaren Kraft eines Kindes. Sie mag im real scheiternden Leben die absolute Ausnahme sein, aber Kino ist ja immer "bigger than life". Jack, den Ivo Pietzcker so hinreißend verkörpert, ist nicht bloß ein vernachlässigter, unglücklicher Bub, sondern ein junger Westernheld der neuen Lesart, Bruder jener starken Mädchen aus Filmen wie "True Grit" oder "Winter‘s Bone": Von den Eltern ist nichts mehr zu erwarten, aber die Kinder gehen ihren Weg alleine.
– "Jack" von Edward Berger kommt morgen in die Kinos. (Ab sechs Jahren)

Ressort: Kino

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