Gut und Gesund Essen (10)
Dicke Kinder: "Die Eltern müssen Vorbild sein"
Fast Food und Fertiggerichte: Bei Kindern ballt sich immer mehr Speck um Bauch und Hüften. Daran sind auch die Eltern schuld, sagt der Freiburger Mediziner Karl Otfried Schwab Schwab im
Petra Kistler
Mi, 29. Mär 2017, 8:32 Uhr
Gesundheit & Ernährung
Thema: Ernährungstipps
Wir benötigen Ihre Zustimmung um BotTalk anzuzeigen
Unter Umständen sammelt BotTalk personenbezogene Daten für eigene Zwecke und verarbeitet diese in einem Land mit nach EU-Standards nicht ausreichenden Datenschutzniveau.
Durch Klick auf "Akzeptieren" geben Sie Ihre Einwilligung für die Datenübermittlung, die Sie jederzeit über Cookie-Einstellungen widerrufen können.
AkzeptierenMehr Informationen
BZ: Herr Professor Schwab, in den USA ist jeder dritte Teenager zu dick, in Deutschland jeder fünfte, heißt es in einer jüngst veröffentlichten Studie zur Kindergesundheit. Stimmen diese Zahlen mit Ihrer Erfahrung überein?
Schwab: In Deutschland stagnieren die Zahlen bei den jüngeren übergewichtigen Kindern zwar etwas, was aber deutlich zunimmt, ist die extreme Adipositas. Dort sehen wir ganz, ganz große Zuwächse. Deshalb müssen wir uns besonders um diese Kinder kümmern.
BZ: Von welchem Alter an werden Kinder überhaupt übergewichtig?
Schwab: Wir haben in der Kinderklinik Patienten von 500 Gramm bis 180 Kilogramm. Es gibt sehr seltene Fälle, bei denen wächst das Gewicht von der Geburt an aus den Perzentilen. Dann ist das Leptin selbst oder dessen Rezeptor kaputt. (Leptin ist ein Hormon, das die chemische Botschaft aussendet, das Essen einzustellen und Energie aus den Speichern – etwa aus Fettdepots – zu gewinnen, Anmerkung der Redaktion.) Zudem gibt es zum Beispiel das seltene Prader-Willi-Syndrom. Aufgrund eines fehlerhaften Genabschnitts auf dem Chromosom 15 kennen diese Patienten kein Sättigungsgefühl und entwickeln einen unstillbaren Appetit; sie können selbst die Mengen nicht regulieren, das Gewicht explodiert. Bei den allermeisten Kindern verliert sich aber der Babyspeck, sobald sie anfangen zu laufen. Babyspeck und eine Adipositas im Erwachsenenalter hängen nicht zusammen. Je älter die Kinder aber werden, desto enger wird die Verbindung.
BZ: Und aus übergewichtigen Kindern und Teenagern werden übergewichtige Erwachsene?
Schwab: Viele Menschen, die als Kinder oder Heranwachsende adipös sind, sind auch als Erwachsene adipös. Kinder, die adipös sind, aber bis zum 18. Lebensjahr ein normales Gewicht erreicht haben, weil sie suffizient therapiert worden sind, können auch als Erwachsene ein normales Gewicht haben. Interessanterweise haben sie dann ein ebenso geringes Risiko, einen Schlaganfall oder Herzinfarkt zu erleiden wie diejenigen, die weder als Kind noch als Erwachsene eine Adipositas aufwiesen. Der Grund: Im Kindesalter ist die Arterienverkalkung noch reversibel. Wer aber als Kind adipös war und auch als Erwachsener adipös bleibt, hat ein erhöhtes Risiko für gewichtsbedingte Erkrankungen: Diabetes Typ 2, Bluthochdruck, Herzinfarkt und Schlaganfall.
BZ: Warum ist Übergewicht bei Kindern so gefährlich?
Schwab: Weil Adipositas häufig Begleiterkrankungen auslöst: zu hoher Blutdruck, Diabetes, Fettleber, zu hohe Harnsäurewerte, Atemprobleme, orthopädische Beschwerden an den Knien und den Hüften. Dicke Kinder werden häufig gehänselt und ausgestoßen, was zusätzlich zu psychischen Problemen führt.
BZ: Welche Kinder haben besonders häufig Übergewicht?
Schwab: Die Genetik spielt eine große Rolle. Der Anteil der genetischen Veranlagung für Übergewicht liegt bei Kindern bei 60 bis 70 Prozent. Wenn die Mutter und der Vater adipös ist, werden es auch die Kinder sein.
BZ: Wenn die Gene so viel Einfluss haben, wo kann dann eine Therapie ansetzen?
Schwab: Immerhin können wir 30 bis 40 Prozent über den Lebensstil beeinflussen, also über eine gesunde, ballaststoffreiche, fettarme Ernährung und über Bewegung. Allerdings ist ein großes Maß an Motivation und Durchhaltevermögen erforderlich. Wenn die Freundin zu einem Teenager sagt "Du bist aber zu dick", klappt das Abnehmen wunderbar. Wenn Übergewichtige aber keinen Leidensdruck haben, außer dass der Doktor sagt "Du solltest ein bisschen abnehmen", sind die Erfolgsaussichten eher schlecht.
BZ: Welche Rolle spielt das Umfeld?
Schwab: Kinder aus wenig gebildeten Elternhäusern haben leider etwas häufiger eine Adipositas als Kinder aus Familien, in denen die Eltern gut oder sehr gut ausgebildet sind. Diese Unterschiede werden stärker, wenn die Kinder älter werden. Deshalb ist es wichtig, dass die Therapie so früh wie möglich ansetzt. Eine Cochrane-Untersuchung aus dem Jahr 2011, die sich alle auswertbaren Adipositasprogramme angeschaut hat, kommt zu zwei Schlussfolgerungen. Erstes: Eine Adipositastherapie ist grundsätzlich wirksam. Zweites: Die allerbesten Erfolge erzielt man bei kleinen Kindern. Deshalb haben wir den Zirkus Flitzebizz gegründet, ein Bewegungs- und Lernprogramm für Vier- bis Siebenjährige. Wir bringen den Kindern bei, dass sie Spaß an sportlicher Betätigung haben und dass sie damit auch erfolgreich sind. Gleichzeitig lernen die Eltern Wissenswertes über die Ernährung und Psychologen können Tipps für das Verhalten der Eltern geben. Drei Doktorarbeiten haben bestätigt, dass zum Beispiel die Koordination der Kinder und das Wissen über Ernährung und Fitness auch eineinhalb Jahre nach dem Ende des Sportprogramms besser waren als zuvor.
Schwab: Natürlich müssen die Eltern Vorbild sein. Wenn den Kindern gesagt wird "Komm, iss was, damit du groß und stark wirst" oder "Der Teller muss leer gegessen werden" ist das nicht hilfreich. Meist kommen Fertigprodukte, also hoch verarbeitete Lebensmittel, auf den Tisch, die zu viel Fett und Zucker enthalten. Wenn die Komponenten nur noch zusammengerührt werden, wird wenig auf Kalorien geachtet. Deshalb haben wir auch mit den Eltern gekocht.
BZ: Mit welchem Erfolg?
Schwab: Wenn ein Leidensdruck der Eltern vorhanden war, hatten wir gute Erfolge. Wenn aber der Leidensdruck fehlt und das soziale Umfeld nicht mitzieht, hat die Therapie wenig Sinn. Der Haken an dieser Erfolgsgeschichte ist, dass adipöse Eltern oft bequemer sind, sie sind nicht aus der Reserve zu locken und nur schwer zu bewegen, ihre Kinder zweimal in der Woche zu einem Sportprogramm zu bringen. Schwierig ist es auch, wenn die Sprachkenntnisse fehlen. Dabei ist Übergewicht gerade bei Migrantenkindern ein großes Problem.
BZ: Müssten nicht die Politik und die Wirtschaft reagieren?
Schwab: Ich sehe die Krankenkassen in der Pflicht. Ich würde gern ein integriertes Programm für Freiburg aufstellen, in dem wir die stationäre und die ambulante Behandlung verbinden. An der Universität könnte dazu geforscht und die Ergebnisse evaluiert werden.
BZ: In vielen Familien scheinen feste Mahlzeiten die Ausnahme zu werden. Ob auf der Straße, vor dem Fernseher oder im Kino, ständig wird gefuttert.
Schwab: Da es oft keine geregelten Essenszeiten gibt, wird dem Magen mit vielen kleinen Mahlzeiten überhaupt nicht die Chance gegeben, ein Sättigungsgefühl aufzubauen. Bei Adipösen ist der Magen zudem größer als bei schlanken Leuten. Daher müssen Adipöse viel essen, bis ein Sättigungsgefühl erreicht wird. Häufig wird auch zu schnell gegessen. Wenn das Sättigungsgefühl dann kommt, ist bereits viel zu viel im Magen drin.
BZ: Essen wir zudem stets die falschen Lebensmittel?
Schwab: Ob ein Essen dick macht oder nicht, hängt auch mit seiner Energiedichte zusammen. Fast Food hat sehr viel dichte Kalorien, satt macht es aber nicht unbedingt. Das Sättigungsgefühl hängt nicht von Kalorien ab, sondern von der Menge. Deshalb ist eine ballaststoffreiche Kost viel besser.
BZ: Was raten Sie Eltern von dicken Kindern?
Schwab: Sie werden niemals ein normales Körpergewicht ihrer Kinder erreichen, wenn sie nur auf die Ernährung setzen. Das Kind wird trotzdem vor dem Fernseher sitzen und sich nicht bewegen. Es müssen immer beide Säulen bedient werden: eine gesunde, ballaststoffreiche und fettarme Ernährung und mehr körperliche Bewegung. Deshalb müssen wir die übergewichtigen Kinder und ihre Eltern frühzeitig erreichen. Wenn sie gelernt haben, was gut für ihre kleinen Kinder ist, können sie dieses Wissen spielerisch weitergeben. Das ist wesentlich effektiver, als wenn Sie einem Übergewichtigen in der Pubertät sagen wollen, was er essen soll und was nicht. Deshalb müssen wir die adipösen Kinder so früh wie möglich therapieren. Nur dann haben sie eine bessere Chance für ihr späteres Leben.
Professor Dr. Karl Otfried Schwab ist Leiter der Pädiatrischen Endokrinologie und Diabetologie am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin Freiburg. Zu seinen Patienten gehören auch übergewichtige Kinder und Jugendliche.
Statt draußen zu spielen, sitzen Kinder heute über Stunden vor dem Computer, Fernseher oder Handy. Dabei sollte sich der Nachwuchs mindestens eine Stunde am Tag körperlich bewegen, damit er gesund und psychisch stabil bleibt. Das erreichen aber nur 27 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland. Mädchen bewegen sich, so Spiegel Online, grundsätzlich weniger als Jungs, Teenager weniger als Kinder. Während die Fünf- bis Siebenjährigen 40 Prozent ihrer Zeit sitzend verbringen, sind es bei den 14- bis 16-Jährigen bereits 60 Prozent. Die ersten Defizite zeigen sich oft nach der Einschulung: Der Medienkonsum nimmt zu, die körperliche Bewegung ab. Die Autoren einer europaweiten Studie zum Thema Kindergesundheit fordern deshalb mehr Aufmerksamkeit der Städteplaner auf die Gestaltung des Lebensumfeldes von Kindern und Jugendlichen. Es soll Kinder anregen, sich viel und gerne zu bewegen. Dafür braucht es öffentliche Plätze, auf denen der Nachwuchs toben, kicken, Inliner- oder Fahrradfahren kann.
Kommentare
Liebe Leserinnen und Leser,
leider können Artikel, die älter als sechs Monate sind, nicht mehr kommentiert werden.
Die Kommentarfunktion dieses Artikels ist geschlossen.
Viele Grüße von Ihrer BZ