Buch in der Diskussion

Der Hass und die Leere: 12 Essays zur jüdischen Lebenswirklichkeit in Deutschland

Warum werden Jüdinnen und Juden exotisiert, warum wird das Judentum auf eine Religion reduziert?Zwölf Autorinnen und Autoren schreiben in einem Sammelband über ihr Jüdischsein in Deutschland  

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"2014 stand ich hochschwanger und zitternd in unserer Wohnung in Berlin, während Tausende Menschen quasi vor unserer Haustür ‚Hamas, Hamas, Juden ins Gas‘ und ‚Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein‘ riefen." Diese Zeilen schreibt Journalistin Shahrzad Eden Osterer, es sind ihre Erinnerungen an eine Demonstration anlässlich des antisemitischen Al-Quds-Tages, an dem Menschen gegen die Existenz Israels demonstrieren. An diesem Tag habe sie sich nicht zum ersten Mal gefragt, ob es eine gute Idee sei, ein jüdisches Kind in die Welt zu setzen und ob es für Jüdinnen und Juden in Deutschland eine Zukunft gebe, schreibt Osterer. Dass Antisemitismus keinen Platz in diesem Land habe, sei nur eine Floskel. Er sei auch hier tief in der Gesellschaft verankert.
Laura Cazés: Sicher sind wir nicht geblieben. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2022. 224 Seiten, 24 Euro.

Es vergeht kaum ein Tag, an dem Antisemitismus keine Rolle spielt. Doch es ist nicht nur der Hass, der ein jüdisches Leben in Deutschland so anstrengend macht. Zwölf Essays von zwölf Menschen, die eines gemeinsam haben: Sie sind Jüdinnen und Juden in Deutschland. In Laura Cazés Buch "Sicher sind wir nicht geblieben. Jüdischsein in Deutschland" wird die jüdische Lebenswirklichkeit in Deutschland in einer perspektivischen Vielfalt deutlich, die ihresgleichen sucht.

In jedem Text wird der äußerliche und innere Kampf präsent. Wenn beispielsweise die Herausgeberin Laura Cazés von der Leere schreibt, die sie seit ihrer Kindheit fühlt und die auch viele andere Jüdinnen und Juden spüren. Eine Leere, die sich aus der frühen Konfrontation mit der Shoah speist, dem Verlust so vieler Menschen und dem Hass gegen Juden, aus der Angst um Sicherheit, dem ständigen Kampf gegen die anderen. "Ich weiß nicht mehr, wann mir klar wurde, dass diese Leere mich mein ganzes Leben lang begleiten wird. Ich weiß nur, dass mich mit dieser Erkenntnis die Phantasie verlassen hat", schreibt Cazés.

Die Journalistin Erica Zingher verweist in ihrem Stück darauf, wie stark jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion unverschuldet von Armut betroffen sind. "Arme Juden" seien eine Realität, die außerhalb der Vorstellungskraft vieler liege. Die Gründe für diese Armut sind vielschichtig. Die Zuwanderer kamen im hohen Alter nach Deutschland. Ihre akademischen Qualifikationen wurden "in 78 Prozent der Fälle" nicht anerkannt. Sie verpassten es, lange genug einzuzahlen, um Rentenansprüche zu haben. Politiker nennen diese Zuwanderung eine gelungene Integration, doch Zingher zeigt, dass sich bisher nie nachhaltig um das Leben dieser Menschen gekümmert wurde.

In den Essays dieses Buches geht es darum, Verständnis für jüdisches Leben zu schaffen. Zu zeigen, dass Jüdinnen und Juden nicht auf eine Opferrolle reduziert werden möchten, wie Hannah Peaceman schreibt. Dem Leser, der Leserin soll vermittelt werden, warum es anmaßend ist, die Singularität der Shoah infrage zu stellen, dass Juden meist aus multikulturellen Familien stammen und eine Identitätsfindung im Land der Täterinnen und Täter kaum möglich ist. Denn wenn man sich in Deutschland als Jude zu erkennen gebe, sei man nur noch "Tyranno Judus Rex", wie es Daniel Donskoy überspitzt darstellt.

Er beschreibt diesen Tyranno wie eine zweite Haut, die sich um ihn schmiegte, nach dem er begonnen hatte, die WDR-Talkshow "Freitag Nacht Jews" zu moderieren. Auf einmal sei er nicht mehr Daniel Donskoy, der Schauspieler, gewesen, sondern Daniel Donskoy, der Jude. Der sich als Experte zu vermeintlichen jüdischen Themen äußern und den Deutschen ihr Gewissen erleichtern soll. Der Vorzeigejude ist und gleichzeitig antisemitische Witze ertragen muss. Eine Erkenntnis, die ihn hadern lässt, mit sich, mit Deutschland. "Die Einladung in den Club der weisen Medienjuden hätte ich abgelehnt – hätte ich damals intensiver nachgedacht", schreibt Donskoy heute über die Entscheidung, die Talkshow zu moderieren.

Dieses Buch ist ein wichtiger Beitrag für viele Diskussionen, die in Deutschland nicht geführt werden, aber überfällig sind: Warum werden Jüdinnen und Juden exotisiert, warum wird das Judentum auf eine Religion reduziert, die es für viele nicht ist? Und warum zwingen viele Deutsche Juden dazu, sich zur Shoah, zur israelischen Siedlungspolitik zu positionieren? Dieses Buch gibt nicht die Antworten darauf, warum Deutsche das tun. Aber es zeigt, dass die Mehrheitsgesellschaft die Pluralität der jüdischen Lebenswelt schlicht ignoriert.
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