Neu im Kino
"Border" ist ein schillernd-eindrückliches Film-Drama
Schillerndes Amalgam aus Horror, und Märchen und Thriller: "Border" von Ali Abbasi ist ein Film-Drama über Liebe, Identität und Bestimmung, das man so schnell nicht vergisst.
Di, 9. Apr 2019, 19:50 Uhr
Kino
Wir benötigen Ihre Zustimmung um BotTalk anzuzeigen
Unter Umständen sammelt BotTalk personenbezogene Daten für eigene Zwecke und verarbeitet diese in einem Land mit nach EU-Standards nicht ausreichenden Datenschutzniveau.
Durch Klick auf "Akzeptieren" geben Sie Ihre Einwilligung für die Datenübermittlung, die Sie jederzeit über Cookie-Einstellungen widerrufen können.
AkzeptierenMehr Informationen
Dabei ist "Border" alles andere als ein Thesendrama. Ali Abbasi, geboren 1981 im Iran, der in Stockholm Architektur studierte und in Kopenhagen die Filmhochschule absolvierte, ist kein Mann für blutleere Theorie. Schon sein Erstling "Shelley" (2016) war ein veritabler Horrorfilm, Elemente davon finden sich auch jetzt, vor allem aber eine geradezu beängstigende Direktheit und Körperlichkeit. Der Film führt nicht das Denken vor, er setzt es frei, mit der Wucht seiner Bilder und seiner dramatischen Entwicklung.
Die Grenzen der Genres sind dabei verwischt, nein: gesprengt. "Border" nach der Erzählung "Gräns" von John Ajvide Lindqvist (der auch Co-Autor des Drehbuchs ist) betört und verstört als schillerndes Amalgam aus Horror und Fantasy, Märchen und Mythologie, Groteske und magischem Realismus, Thriller und Aussteigerdrama – und erzählt, nicht zuletzt, eine große Lovestory. Die Geschichte einer Frau, die ihr Begehren entdeckt und ihre Schönheit. Und schließlich ihren Weg, der ein anderer ist, als der Vater, die Umgebung, der Liebespartner erwarten.
Tina ist anders als andere Frauen. Ganz anders. Schon äußerlich: ein gedrungener Leib, ein Rundschädel mit Stirnwulst, Schweinsaugen, borstiger Haut und gelben Zähnen, die zwischen den geöffneten Lippen vorstehen. Sie sieht aus, als habe der Maskenbildner (Göran Lundström, der dafür eine Oscarnominierung bekam) das ewige Ideal holder Weiblichkeit mut- und böswillig auf den Kopf gestellt. Die 1974 geborene schöne Schwedin Eva Melander, die für ihre Rolle 20 Kilo zugenommen und täglich vier Stunden in der Maske zugebracht hat, verkörpert sie mit atemraubender Intensität als wilde Kreatur im Korsett zivilisatorischer Gepflogenheiten. Tina ist Zollbeamtin: Mit stoischer Miene beobachtet sie die Passagiere, die mit der Fähre aus Dänemark kommen. Ab und zu bläht sie die Nüstern und hebt die Oberlippe, dann wird einer rausgewunken. Der minderjährige Alkoholschmuggler, der smarte Anzugträger, der in seinem Smartphone einen Chip mit kinderpornographischem Material versteckt hat: Tina spürt sie alle auf, denn sie kann Angst, Scham und Schuld wittern.
Bei der Arbeit weiß man ihre Sonderbegabung zu schätzen, privat führt sie eine einsame, trostlose Existenz. Sie haust im Wald, gemeinsam mit einem Hundezüchter, und wenn der mal zu ihr ins Bett kriechen will, stößt sie ihn zurück, was sollte er schon wollen von ihr, der Hässlichen? Und außerdem ist sie ja missgebildet, keine richtige Frau, eine Chromosomenanomalie, hat man ihr immer gesagt.
Aber dann steht eines Tages einer am Zoll, der aussieht wie sie. Vore (Eero Milonoff) ist auch so ein struppiges Wesen, aber offenbar stolz darauf – weil er weiß, wer er ist. Die beiden beschnüffeln sich und finden Gefallen aneinander. Was sie verbindet, ist freilich weit mehr als bloß eine Seelenverwandtschaft, wie sich in einer Sexszene zeigt, so explizit, orgiastisch und monströs, dass man schier nicht hinschauen kann. Und doch scheint da auch alle Seligkeit der Liebe auf: der Aufschrei der Erfüllung, das Glück, erkannt zu werden, gewollt als der, der man ist.
Wer ist sie, diese Tina? Als das Geheimnis ihrer Herkunft gelüftet ist, wird immer deutlicher, dass diese Frage nur sie selbst beantworten kann. Mit ihrer Haltung, ihrem Handeln. Den kriminellen Grenzgängern am Zoll hat sie die längste Zeit das Handwerk gelegt, jetzt muss sie selbst als Grenzgängerin ihren Weg finden zwischen einem animalischen Leben in der Natur und inhumanen Racheplänen, zwischen Abschied und Neubeginn, zwischen Freiheit und Verantwortung.
Davon hier konkreter zu erzählen, hieße die Geschichte zu verraten, ja den ganzen Film, der zu Recht vielfach ausgezeichnet wurde, etwa in Cannes 2018 mit dem Hauptpreis der Sektion "Un certain regard". Ein Drama, das auf so bildmächtige (Kamera: Nadim Carlsen) wie höchst eigenwillige Weise davon erzählt, was das Leben ausmacht. Und dass Humanität nicht unbedingt eine menschliche Eigenschaft ist.