Beton schreibt Geschichte

Wer vom Sony-Center am Potsdamer Platz in Berlin Richtung Brandenburger Tor läuft, der kommt hier vorbei: An 2711 Betonklötzen. Grau sind sie und glatt. Zudem stehen sie tief. An den Rändern führen zwischen allen Stelen Wege hinein ins Feld, gleichzeitig herunter. Die Spitzen der Stelen ragen über den Boden hinaus. Wer die schmalen Wege betritt, der kann sich leicht verirren. Es ist fast wie ein Labyrinth.  

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Wer vom Sony-Center am Potsdamer Platz in Berlin Richtung Brandenburger Tor läuft, der kommt hier vorbei: An 2711 Betonklötzen. Grau sind sie und glatt. Zudem stehen sie tief. An den Rändern führen zwischen allen Stelen Wege hinein ins Feld, gleichzeitig herunter. Die Spitzen der Stelen ragen über den Boden hinaus. Wer die schmalen Wege betritt, der kann sich leicht verirren. Es ist fast wie ein Labyrinth.

Verwirrt bin ich, weil es keinen Anfang und kein Ende zu geben scheint. Am östlichen Rand findet sich allerdings der Eingang ins Dokumentationszentrum. Eine längere Schlange steht schon davor. Eine Mitarbeiterin des Zentrums fragt nach der Nationalität der Touristen. Und sagt dann: "Der Besuch ist kostenlos, aber erst ab dem Alter von 14 Jahren empfohlen. Es gibt vier Räume." Ich frage sie: "Warum wurde das hier so gebaut?" Und sie antwortet: "Überleg mal, wie die Steine hier auf dich wirken. Jeder ist anders. Obwohl alle ähnlich sind. Es sind 2711 Steine, eine ganz willkürliche Zahl. Es könnten auch 4000 sein oder 7000. Vernichtet wurden sechs Millionen Juden, vielleicht auch mehr, vielleicht auch weniger. Ebenso willkürlich. Sechs Millionen, das kann sich keiner vorstellen. So wie sich keiner vorstellen kann, dass es hier 2 711 Stelen sind. Namen stehen keine darauf, und auch bei den sechs Millionen Juden, die umkamen, weiß man den Namen von vielen Opfern nicht. Und doch hat jeder seine Eigenart. Sieht anders aus. Warst du mal in Jerusalem? Auf dem Golgota? (Hügel, auf dem laut der Bibel Jesus gekreuzigt wurde, d. Red.)" Ich hab nein gesagt. "Dort sehen die Gräber ähnlich aus. Aber das ist eben nicht alles. Du musst einmal darauf achten, wie die Steine auf dich wirken, wenn du lange hindurchgehst." Das nehme ich mir vor, nach dem Museum.

Im Museum selbst durchlaufen wir zuerst eine Sicherheitskontrolle. Handy, Schlüssel, Geldbeutel müssen in eine Kiste. Warum hat man Angst, dass ein Anschlag passiert, wenn man an die Opfer von Gewalt denkt? Der Sicherheitsmann antwortet: "Das ist hier das Regierungsviertel. Hier werden alle Gebäude in der Nähe vom Reichstag und vom Kanzleramt so bewacht." Ich leihe mir für zwei Euro einen Audioguide, der mir so viel erzählt über die Verfolgung der Juden durch die Nazis, dass ich mir das alles gar nicht merken kann.

Doch im ersten Raum dann sind auf dem Fußboden nur ganz wenige Texte eingelassen. Die Stimmen der Ermordeten. Einen Text lese ich, er ist von einem Mädchen, das zu jung wäre, um das Museum besuchen zu können. J. heißt sie. Und sie schreibt: "Lieber Vater! Vor dem Tod nehme ich Abschied von Dir. Wir möchten so gerne leben, doch man lässt uns nicht, wir werden umkommen. Ich habe solche Angst vor diesem Tod, denn die kleinen Kinder werden lebend in die Grube geworfen. Auf Wiedersehen für immer. Ich küsse Dich inniglich. Deine J."

Das berührt mich. Kinder in die Grube werfen? Im letzten Raum sind Bilder von einer Kiesgrube in der Ukraine, Babij Jar. Im Bericht darüber steht, dass die Nazis nach der Eroberung von Kiew alle Juden zum Steinbruch trieben. Und in zwei Tagen 33 000 Menschen mit Maschinengewehren erschossen haben. Wenn jeder der Ermordeten eine Stele im Denkmal bekommen würde, wie groß müsste dann das Feld sein?

Als ich alle vier Räume des Museums besichtigt habe, bin ich erleichtert. Und gehe die Treppe wieder hoch ins Denkmal. Laufe zwischen den grauen Stelen. Viele haben Risse. Mein Vater erklärt mir: "Viele Stelen sind vom Einsturz bedroht und haben ein Band aus Metall als Schutz. Das war anders geplant. Ein Denkmal muss doch für die Ewigkeit sein." Die Risse passen aber zum Denkmal, finde ich. Sie zeigen, dass keine Stele perfekt ist. Auch dass einige drohen, einzustürzen, passt zum Tod. Das Feld hat keinen Anfang und kein Ende, aber Ränder.

Es ist schön zu sehen, wie viele Menschen auf ganz unterschiedliche Weise durch das Denkmal gehen – frech wie meine Schwester, ernst wie mein Vater. Oder unsicher, wie eine Schulklasse mit ihrer Lehrerin. Jeder kann das anders erleben. Keiner wird belehrt. Und doch ist man froh, wenn man wieder draußen steht, und vom Grau der Betonklötze zur Straße "Unter den Linden" geht. Ins Leben!

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