Angst, Alk und Ahnungslosigkeit
Viel spricht gegen Eingreifen - die Hauptfigur eines Wettbewerbstextes setzt sich dennoch für den ausländischen Freund ein.
Wir benötigen Ihre Zustimmung um BotTalk anzuzeigen
Unter Umständen sammelt BotTalk personenbezogene Daten für eigene Zwecke und verarbeitet diese in einem Land mit nach EU-Standards nicht ausreichenden Datenschutzniveau.
Durch Klick auf "Akzeptieren" geben Sie Ihre Einwilligung für die Datenübermittlung, die Sie jederzeit über Cookie-Einstellungen widerrufen können.
AkzeptierenMehr Informationen
Zivilcourage ist, wenn man nicht stumm zuschaut bei Ungerechtigkeiten und Gewalt. Ein Schreibwettbewerb in Freiburg sollte Jugendlichen die Möglichkeit geben, dazu etwas zu erzählen. Aniko Jaeger (9. Klasse, Staudinger Gesamtschule) ist eine von 16 Preisträger/innen. Dieses ist ihr Text über Zivilcourage.
Vorab: es hat mich viel Überwindung gekostet, diese Zeit noch einmal aufzurollen, denn sie war alles andere als schön. Ich war 15 Jahre alt, ging in die 10. Klasse der Realschule und kam mit keinem dort richtig aus. Ich war ständig allein, ging oft durch die Stadt: da saßen immer Gruppen von Punks, von Pennern, Hippies, und dann Leute mit Glatzen und Springerstiefeln. Die tranken Bier, was als absolut cool galt und sie lachten mir immer zu, bis ich mir irgendwann ein Herz fasste und mich mit einer Tüte Pommes in ihre Nähe setzte. Tatsächlich kam gleich darauf ein großer blonder Typ, schlank aber nicht sportlich aussehend, so um die 18 Jahre, herübergeschlendert und fragte, ob ich mich zu ihnen setzen wollte.
In meinem Kopf hörte ich die Stimme meiner Mutter, die jedes Mal, wenn wir in der Stadt waren, Bemerkungen machte, wie "abscheuliche Leute, diese Rechtsradikalen, halt dich bloß von diesem Gesindel fern". Aber was konnte sie jetzt noch machen? Vor drei Jahren war sie mit ihrem Macker über alle Berge verschwunden und seit damals kommt einmal im Jahr eine Karte oder ein Foto. Am Anfang hatte mein Vater noch versucht, sich trotz seiner Trauer auf den Beinen zu halten, aber bald merkte er, um wie viel leichter es war, den Verlust mit Alkohol herunterzuspülen. Deswegen verlor er seinen Job und das gab ihm nur noch mehr Grund, immer weiter zu trinken.
Ich verdrängte diese Gedanken, weil ich ungern darüber nachdachte, packte meine Pommestüte und meine Tasche und setzte mich zu der Gruppe. Alle stellten sich vor und als ich mich mit "Raika" vorstellte, herrschte einen Moment lang Stille. Der Große namens Robert, der mich eingeladen hatte, fragte mich, woher ich käme. Ich verstand diese Reaktion zwar nicht, antwortete aber brav, dass ich aus Deutschland sei - und schon entspannten sich die Gesichter wieder. Damals hatte ich keine Ahnung, was Rechtsradikale oder Neonazis sind, die flüchtigen Bemerkungen der Lehrer oder der Eltern wurden nie näher erläutert, und ich fragte auch nicht weiter nach. So stürzte ich mich reichlich blauäugig in mein Leben als "Nazibraut".
Anfangs traf ich mich mit ihnen am Wochenende, dann täglich, schließlich ging ich nur noch gelegentlich zur Schule - und das auch meistens blau, denn meine neuen Freunde hatten mich total auf den Geschmack des Alkohols gebracht. Und obwohl ich es mit meinem Trinker-Vater eigentlich besser hätte wissen müssen, dachte ich nicht lange darüber nach, schließlich tranken alle.
So schnell es mit meiner äußeren Veränderung ging, so lange ging es jedoch, bis ich verstand, was sie da eigentlich sagten über Ausländer, Hitler, die Arbeitsplätze und so weiter. Aber da war es schon zu spät, ich steckte zu tief drin, denn auch wenn ich über einen Ausstieg nachdachte und mich sogar über den Gedanken hinwegsetzte, dann wieder so gut wie ganz allein dastehen zu müssen, blieb ich spätestens an dem für mich großen Problem hängen, wo ich dann den Alkohol herbekommen würde. Also verdrängte ich das Ganze wieder und redete mir ein, ein Superleben zu haben, genau so, wie ich es eigentlich schon immer gemacht hatte, seit ich meine Mutter das erste Mal mit ihrem neuen Kerl gesehen hatte.
Allerdings entwickelte sich ironischerweise in dieser Zeit parallel zu meinem "coolen" Leben eine Freundschaft zu Mark. Er war halb Iraker und halb Deutscher und eine Klasse über mir. Ich verstand mich super mit ihm. Wenn ich ausnahmsweise einmal in der Schule war, kam er immer zu mir und wir unternahmen etwas zusammen in der Pause. Wenn ich heute so darüber nachdenke, war er wohl der einzige Grund, weshalb ich überhaupt noch zur Schule ging. Er wollte Arzt werden. Es fiel ihm als Einzigem auf, dass ich mich immer mehr veränderte, denn zu Lehrern, Mitschülern und Bekannten hatte ich keine gute Beziehung. Jedenfalls schaffte er es lange Zeit, mich vom Kauf von Springerstiefeln abzuhalten und mich nicht von den Meinungen der Clique einnehmen zu lassen, Schlechtes in Ausländern zu sehen.
Doch wie es ja irgendwann kommen musste, rutschte mir bei meinen Nazifreunden - als wir mal wieder total dicht waren und so auf der Straße lagen - etwas über Mark und über seine Herkunft raus. Sofort wurde ich ausgequetscht, sie wollten wissen, wann er Schule aushabe, wo er wohne - und ich kassierte meine erste Ohrfeige. Ich war zu betrunken, um wirklich zu verstehen, worum es ihnen ging und gab alle Auskünfte.
Eine knappe Woche später, es war ein Dienstag, hatten Mark und ich uns zum CD-Hören verabredet und ich gab mir alle Mühe, einmal nüchtern zur Schule zu kommen. Aber selbst in nüchternem Zustand war ich zu blöd, um zu verstehen, was vor sich ging, als die ganze Clique mich plötzlich nach der Schule vor dem Tor erwartete. Ich freute mich, dass sie mich abholen wollten, doch sie schauten an mir vorbei in Marks Richtung und warteten, bis er draußen war. Ich wartete ebenfalls, denn ich war ja mit Mark verabredet. Ich ahnte noch immer nichts und war sogar so naiv zu glauben, sie hätten ihre Meinung gegenüber Mark geändert, als sie plötzlich Schlagstöcke aus ihren Jacken hervorzogen, Mark einkesselten und anfingen, auf ihn einzuschlagen. Ich habe noch heute das Bild vor Augen, wie Schüler, Lehrer und Passanten mit teils verängstigten, teils belustigten und gespannten Mienen das Geschehen verfolgten. Keiner kam Mark zu Hilfe, es gab sogar Schüler, die die Schläger anfeuerten.
"Echte Freundschaft ist mehr wert als irgendwelche Pseudogruppenideale."
Wie ich ihn da sah - sein dunkles Gesicht von Schmerzen verzerrt, der staubige Boden saugte das Blut auf, das aus der Platzwunde am Kopf und aus der Nase kam, und seine geschwollenen Augen, die mich ansahen als fragte er mich "Warum machen die das nur?", da pochte es wild in meinem Kopf. Plötzlich sah ich alles ganz klar, fast zu klar, und meinem geradezu betäubten Gehirn wurde schockartig bewusst, dass kein noch so angesagtes und draufgängerisches Leben diese Freundschaft würde ersetzen können. Ich stürzte mich in totaler Panik in das Gerangel. Ich warf mich über Mark, auf den noch immer eingetreten wurde, und schrie mit überschnappender Stimme: "Wenn, dann tötet uns beide!"
Später wurde mir bewusst, wie dramatisch das geklungen haben muss, aber: Es zeigte Wirkung. Anfangs versuchten die Schläger, mich von Mark herunterzutreten und ich vernahm verächtliche Kommentare wie "Der hat's nicht anders verdient" oder "Der Scheißausländer ist unsere Angelegenheit". Ich ließ Mark nicht los, und irgendwann ließen sie von uns ab, fingen schließlich an zu rennen, als sie Sirenen hörten. Denn eine Schülerin hatte ebenfalls Courage gezeigt und per Handy die Polizei verständigt.
So wurde innerhalb von 20 Minuten mein neues Leben zu meinem alten Leben. Genau diese Situation, genau diese 20 Minuten haben mich dazu gebracht, zu dem Menschen zu werden, der ich heute bin; ein Mensch nämlich, der begriffen hat, dass es sich lohnt, für echte Freundschaft zu kämpfen, weil sie so viel mehr wert ist als irgendwelche Pseudogruppenideale.
Kommentare
Liebe Leserinnen und Leser,
leider können Artikel, die älter als sechs Monate sind, nicht mehr kommentiert werden.
Die Kommentarfunktion dieses Artikels ist geschlossen.
Viele Grüße von Ihrer BZ