200 Jahre Fahrrad
Happy Birthday, Fahrrad!
Not macht erfinderisch: Nach einer Naturkatastrophe baute Karl Drais vor 200 Jahren eine Laufmaschine – das erste Fahrrad. Doch der Weg zum Massengefährt war holprig.
Sa, 10. Jun 2017, 16:49 Uhr
Südwest
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Dass das Fahrrad einmal so beliebt und vor allem zu einem Freizeitvergnügen werden würde – damit hat Karl Friedrich Freiherr Drais von Sauerbronn sicher nicht gerechnet. Der gebürtige Karlsruher hat Anfang des 19. Jahrhunderts seine Fahrmaschine aus der Not heraus erfunden: Die Explosion des indonesischen Vulkans Tambora 1815 hatte zu Ernteausfällen und "Jahren ohne Sommer" geführt. Der Haferpreis stieg, Pferde konnten nicht mehr versorgt werden und starben. Ein Gefährt, das auch ohne tierische Hilfe fuhr, musste her. Drais erfand das Zweiradprinzip: zwei Räder laufen hintereinander. Gelenkt wurde am Vorderrad, eine Stütze für die Unterarme, das sogenannte Balancierbrett, übertrug die Kraft ins Rad. Pedale gab es noch nicht, der Fahrer schob sich mit den Füßen ab.
Diese sogenannte Draisine war das Ur-Fahrrad. Drais demonstrierte ihr Potential am 12. Juni 1817 höchstpersönlich. Er lief von seinem Mannheimer Wohnhaus nach Schwetzingen – für die hin und zurück 14 Kilometer brauchte er mit seinem rund 20 Kilo schweren Gefährt knapp eine Stunde. Eine passable Zeit. Drais selbst nannte seine Erfindung Laufmaschine. "Auf keinen Fall dürfen wir es Laufrad nennen, das ist wichtig", sagt Thomas Kosche, der die Ausstellung "2 Räder – 200 Jahre" für das Mannheimer Technoseum kuratiert hat. "Ein Laufrad war schon damals die Tretmühle, das Hamsterrad. Eine Maschine aber, die galt als modern."
Doch die neuen Zweiräder setzten sich nicht durch. Zum einen kosteten sie verhältnismäßig viel Geld und waren für die meisten schlicht nicht erschwinglich. Zum anderen waren sie auf den damaligen holprigen Straßen äußerst unbequem. Als Alternative auf die Bürgersteige auszuweichen, kam nicht in Frage: Kurz nach dem Aufkommen der Laufmaschinen haben die ersten Städte das Fahren auf dem viel komfortableren Gehweg verboten, damit keine Fußgänger zu Schaden kamen. So verschwand die Draisine recht bald nach ihrer Erfindung wieder in der Versenkung – zumindest in Deutschland. Die Engländer hatten durchaus Gefallen an dieser neuen Art der Fortbewegung gefunden. "Die Bezeichnung hobby horse oder auch dandy horse macht allerdings sehr deutlich, dass eine solche Laufmaschine etwas war, das sich nur wenige leisten konnten", sagt Kosche. Die heute noch erhaltenen Exemplare aus dieser Zeit stammen alle aus Adelsbesitz.
Auch wenn die Draisine nur zögerlich Anlauf nahm – die Idee war in der Welt. Gut fünf Jahrzehnte vergingen, bis sie wieder aufgegriffen wurde. Es war vermutlich der Franzose Pierre Michaux, der das Rad mit Pedalen ausgestattet hat. Andere sehen seinen Landsmann Pierre Lallement als wahren Erfinder des Pedalrades. Sicher ist, dass Lallement kurzzeitig bei Michaux angestellt war. Dieser wiederum arbeitete mit den überaus geschäftstüchtigen Brüdern Olivier zusammen. Sie finanzierten die Produktion der nun mit Pedalen versehenen Fahrräder und machten sie auf der Weltausstellung 1867 in Paris der ganzen Welt bekannt. Der Name: vélocipède bicycle, auf Deutsch Velozipede, also schnelle Füße. "Bis heute ist nicht ganz geklärt, ob das Fahrrad auf der Weltausstellung gezeigt worden ist oder es einfach von Menschen in dem Umfeld benutzt worden ist", erklärt Thomas Kosche. "Sicher ist, dass die Weltausstellung enorm zur Verbreitung des Fahrrades beigetragen hat."
Das neue Verkehrsmittel etablierte sich von nun an schnell. In Deutschland entstanden zahlreiche Velozipedfabriken. "Einer der ersten Velozipisten in Mannheim war Carl Benz", sagt Thomas Kosche.
Das Fahrrad wurde zunächst als Hochrad weiterentwickelt. Denn je größer das Rad, umso größer die Entfernung, die mit einer Umdrehung zurückgelegt werden konnte. Und umso schneller. Das führte zu vielen Unfällen, es gab Tote. "Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in anderthalb Meter Höhe auf so einem wackligen Konstrukt, fahren in ein Loch und das ganze Rad kippt nach vorne – mit Ihnen drauf", schildert Kosche einen typischen Unfallhergang. Helme waren noch nicht auf dem Markt.
Trotz der Gefahr: Radfahren entwickelte sich zu einem beliebten Freizeit- und Vereinsvergnügen. Gependelt ist damit jedoch noch niemand. Ein Hochrad war teuer, um 1880 kostete ein Exemplar rund 400 Reichsmark. So viel verdiente ein Arbeiter in einem ganzen Jahr. Das Rad wurde zum Prestigeobjekt: Vor allem Dandys – vornehme junge Männer – hatten genug Zeit, Geld und Balancegefühl, um so ein teures Rad im Park spazieren zu fahren. Angenehm war das nicht, die Räder hatten bald den Ruf als "Knochenschüttler" weg. Das hielt zwanzig Hochradfans jedoch nicht davon ab, am 17. April 1869 in Hamburg den ersten – und heute noch existierenden – Radfahrclub der Welt zu gründen: den Eimsbüttler Velocipeden-Reitclub. Die Mitglieder unternahmen Weltreisen und veranstalteten erste Rennen. Eines der ersten Fernradrennen war damals Paris-Roube 1893. Die besondere Herausforderung: Es ging fast nur über Kopfsteinpflaster.
Das Hochrad, sagt Thomas Kosche, war der SUV der damaligen Zeit – vom Preis und von der Anmutung her. "Und es war ebenso eine technologische Sackgasse." Das Hochrad verschwand. Das sogenannte Niederrad mit Kettenantrieb, wie wir es heute kennen, wurde zum ersten Mal 1885 in England gebaut. Der Begriff "Fahrrad" taucht hier ebenfalls erstmals auf, doch vorerst lautete der Handelsname noch "Sicherheitsniederrad". Die harten Vollgummireifen wichen bald Luftgummireifen, das Radfahren wurde deutlich bequemer. Und fand immer mehr Anhänger. Ende des 19. Jahrhunderts war die Entwicklung des modernen Fahrrades nahezu abgeschlossen. "Die klassische Rahmenform gab es damals bereits, und sie ist bis heute geblieben, weil sie einfach perfekt ist", sagt Kosche. Das Fahrrad – ein sehr früh ausgereiftes Industrieprodukt, an dem im Laufe der Jahrzehnte nur Nuancen verfeinert werden. Die Form ist so ergonomisch und energieeffizient, dass Weiterentwicklungen wie das Liegerad nicht über einen Exotenstatus hinauskommen.
Um die Jahrhundertwende war das neue Verkehrsmittel für die meisten Menschen erschwinglich geworden. Die weltweit größten Fahrradfabrikanten saßen zu dieser Zeit in Deutschland. Ein Fahrrad bedeutete Freiheit und Mobilität, das machte es auch in den Augen vieler Frauen attraktiv. Die mussten sich ihr Recht, Rad zu fahren, jedoch erst erkämpfen. Schädlich für die Gebärfähigkeit sei diese Art der Fortbewegung, hieß es. Und gefährlich dazu: Lange Röcke verhedderten sich zu schnell in den Speichen des Rades. Hosen und Sportkleidung für Frauen waren noch verpönt.
Das Fahrrad hat es schnell vom Luxussymbol zum beliebten Gebrauchsgegenstand gebracht. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg änderten sich die Begehrlichkeiten rasch: Wer etwas auf sich hielt, der legte sich ein Auto zu. Bis in die 80er-Jahre hinein dauerte der Autoboom, dann begann langsam ein Umdenken. Die Deutschen haben die Vorteile des Fahrradfahrens erkannt: Es hält fit, schon die Umwelt, schleust den Fahrer zuverlässig am Stau vorbei und erspart die Parkplatzsuche. Und es gibt keinen effektiveren Weg sich fortzubewegen. 69 Prozent der Deutschen besitzen mindestens ein Fahrrad, 2015 haben diese Radler insgesamt knapp 25 Milliarden Kilometer zurückgelegt. Karl Freiherr Drais von Sauerbronn, der auf der allerersten Radtour der Welt 14 Kilometer zurückgelegt hatte, wäre stolz. Sogar seine Draisine ist zu neuen Ehren gekommen – als Lernrad für Kinder. Darauf übt sich nämlich, sagen Pädagogen, die Balance um einiges besser als auf dem Dreirad oder einem Rad mit Stützrädern.
- Typologie: Welche Fahrradfahrer-Typen gibt es?
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