Alltag mitten im Ausnahmezustand

Wie eine Studentin aus Freiburg ihren Erasmus-Aufenthalt an der Kemerburgaz-Universität in Istanbul erlebt.  

Zu den Kommentaren
Mail

Wir benötigen Ihre Zustimmung um BotTalk anzuzeigen

Unter Umständen sammelt BotTalk personenbezogene Daten für eigene Zwecke und verarbeitet diese in einem Land mit nach EU-Standards nicht ausreichenden Datenschutzniveau.

Durch Klick auf "Akzeptieren" geben Sie Ihre Einwilligung für die Datenübermittlung, die Sie jederzeit über Cookie-Einstellungen widerrufen können.

Akzeptieren
Mehr Informationen
1/2
Istanbul ist für Marlene in acht Monaten Erasmus-Aufenthalt eine neue Heimat geworden. Foto: Marlene Resch

Von Freiburg nach Istanbul. Von der Dreisam an den Bosporus. Der Unterschied könnte kaum größer sein. Als Fudder-Autorin Marlene Resch vor acht Monaten Freunden von ihren Plänen erzählte, einen Erasmus-Aufenthalt in der Türkei zu verbringen, waren die verwundert: Warum ausgerechnet Istanbul, warum jetzt? Nach acht Monaten zieht sie eine erste Bilanz.

Was sich vor meinem Abflug Ende August 2016 bereits abzeichnete, setzt sich heute fort: Deutsch-türkische Streitigkeiten, ein monatelanger "Ausnahmezustand", Repressionen und nun auch noch ein haarscharfes "Evet" im Referendum um Erdogans Präsidialsystem. Nicht zu vergessen der Terror. Wer geht da noch freiwillig in die Türkei? Lese ich die deutschen Medien, könnte ich mich das manchmal selbst fragen. Dann brennen sich die Bilder eines hetzenden Erdogans und fahneschwenkender Massen genauso in meine Netzhaut ein, wie in die derer, die in Deutschland vor dem Bildschirm sitzen. Aber hier in Istanbul – im vermeintlichen Epizentrum von Kontrast und Konflikt, scheint mir das oft auch genauso abstrakt wie aus der Freiburger WG-Küche heraus. An den meisten Tagen herrscht in den Straßen Istanbuls nämlich nicht vorrangig Erdogan sondern hauptsächlich eines: Alltag.

Dann sitze ich gemütlich mit Deutschen, Türkinnen und Türken und Deutsch-Türkinnen und -Türken zusammen und wir unterhalten uns über die unterschiedlichen Kulturen, anstatt uns gegenseitig Vorwürfe zu machen. Nazi-Vergleiche und Hetze gegen Deutschland haben hier – im Zwischenmenschlichen – keinen Platz. Die Frage, ob Deutschland eine Demokratie sei, ist dann als Witz gemeint, ein Nazi bin ich nur, wenn ich vergesse, den Müll raus zubringen und über "Danke Merkel"-Memes kann man gemeinsam lachen.

Die Verbundenheit von Deutschland und der Türkei bekomme ich erst hier richtig zu spüren – obwohl sie doch in Berlin und Freiburg auch direkt vor meiner Haustür lag. So viele Geschichten begegnen mir von Türken, die Verwandte in Deutschland haben, selbst eine Zeit ihres Lebens dort verbracht haben oder für die meine Heimat ein Sehnsuchtsort ist. Die gemeinsame Geschichte und jedes persönliche Schicksal, das damit zusammenhängt: die deutsche Schmuckverkäuferin auf dem Istanbuler Basar, die türkische Ärztin in der Berliner Nachbarschaft, all die deutsch-türkischen Kulturfeste, Stiftungen und jede deutsch-türkische Freundschaft. Sollen wir das alles vergessen und über den Haufen werfen, weil ein wütender Herrscher gegen Deutschland schimpft?

Natürlich nicht. Aber gänzlich ausblenden können wir Politik und Diplomatie in solch angespannten Tagen leider auch nicht. Gerade während des Wahlkampfs für das Verfassungsreferendum war für mich kein Entkommen von der Thematik. Lief ich zur Bushaltestelle, zum Einkaufen, wohin auch immer, schallten mir die Wahlsongs des Ja- und Nein-Lagers entgegen. Da wurden Flyer verteilt, Slogans geschrien und Plakate, Wimpel und Leinwände vollendeten die Reizüberflutung – ein emotionaler Wahlkampf wie ich ihn aus Deutschland nicht kannte.

Erst am Wahltag selber, als der Lärm verstummt und die riesigen Plakate weg waren, merkte ich, wie ich die ganze politische Anspannung in mir aufgesaugt und Erdogan mich diese Nacht in meine Träume verfolgt hatte. Es ist ein absurdes Gefühl, wenn man am "Schicksalstag" der neuen Heimat dann in einem deutschen Ostergottesdienst in Istanbul sitzt und in eine Art Paralleluniversum eintaucht. Doch die absurde Realität kehrt zurück, wenn zwischen Osterkranz und bemalten Eiern Gespräche über Krisenevakuierung und Hamstervorräte geführt werden, wenn deutsche Journalisten zur Arbeit eilen und Deutsch-Türken sich auf den Weg zu den Wahllokalen machen. Aber im Garten der deutschen Kirchengemeinde wird einem auch jene Sicherheit wieder bewusst, die die Türken an diesem Tag nicht haben: Wenn alles zu wild wird, kann ich die Türkei Dank meines Passes jederzeit hinter mir lassen.
Nach dem Referendum

herrscht Katerstimmung

Die große Ungewissheit, die sich die Wochen vor dem Referendum angestaut hatte, sollte dann am Abend des 16. Aprils ein Ende finden: Als Erdogan noch vor Auszählung aller Stimmen gegen 21 Uhr seinen Sieg mit 51 Prozent für das Ja-Lager bekannt gab. Gleichzeitig begannen sich in meiner Nachbarschaft jene zu rühren, die darin den Untergang der Demokratie sehen. Ein Klappern von Töpfen und Pfannen ließ mich erst verwirrt aufhorchen, bevor ich mich an die Erzählungen eines Freundes erinnerte, der zu Gezi-Zeiten in Istanbul war: "Da standen dann alle auf ihren Balkonen und haben zum Protest auf Töpfe getrommelt. Das wird wohl jetzt nicht mehr so sein", hatte er vor meinem Abflug erzählt. Und doch war dieser Klang an diesem Abend wieder in einigen Stadtteilen Istanbuls zu hören. Mit Bannern, Töpfen und Fahnen zogen die Menschen die Straßen entlang, stimmten Sprechchöre an und ließen sich aus den Fenstern heraus bejubeln. Alles schien ein klein wenig hoffnungsvoll beschwingt – als wäre der Geist von Gezi, von dem man mir hier sonst nur in nostalgischen Erzählungen vorschwärmt, für wenige Stunden wieder in der Stadt.

Doch mit jedem Tag, der seither vergeht, kehren Rationalität, Realität und Alltag zurück. Am Montag nach dem Referendum, als ich an der Uni einen Vortrag über die Doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland halte, wirken alle kollektiv verkatert: von den Strapazen der vorherigen Nacht, der letzten Wochen. Als ich das Contra-Argument des doppelten Wahlrechts erwähne, geht ein Raunen durch die Klasse – schließlich hatten in Deutschland 63 Prozent der türkischstämmigen Wahlberechtigten, die am Referendum teilgenommen haben, mit Ja gestimmt. "Die Wunde ist noch frisch", sagt die Dozentin und lacht müde. Ich zitiere eine Forsa-Studie, laut der 53 Prozent der Deutschen die doppelte Staatsbürgerschaft befürworten. Nach dem Referendum ist das mittlerweile überholt: Nun, so der Deutschlandtrend, lehnen 58 Prozent eine doppelte Staatsbürgerschaft ab. Zwischen Deutschland und der Türkei scheint also nichts einfacher zu werden. Bleibt nur, sich in kulturell bunter Runde auf einen türkischen Çay zu treffen und zu versuchen, im Zwischenmenschlichen wieder etwas Einfachheit zu finden.

Fudder-Autorin Marlene Resch, 20, studiert an der Uni Freiburg Soziologie und Politikwissenschaft. Seit September 2016 ist sie für zwei Auslandssemester in Istanbul.

Artikel verlinken

Wenn Sie auf diesen Artikel von badische-zeitung.de verlinken möchten, können Sie einfach und kostenlos folgenden HTML-Code in Ihre Internetseite einbinden:

© 2024 Badische Zeitung. Keine Gewähr für die Richtigkeit der Angaben.
Bitte beachten Sie auch folgende Nutzungshinweise, die Datenschutzerklärung und das Impressum.

Kommentare


Weitere Artikel