Alltag mitten im Ausnahmezustand
Wie eine Studentin aus Freiburg ihren Erasmus-Aufenthalt an der Kemerburgaz-Universität in Istanbul erlebt.
Wir benötigen Ihre Zustimmung um BotTalk anzuzeigen
Unter Umständen sammelt BotTalk personenbezogene Daten für eigene Zwecke und verarbeitet diese in einem Land mit nach EU-Standards nicht ausreichenden Datenschutzniveau.
Durch Klick auf "Akzeptieren" geben Sie Ihre Einwilligung für die Datenübermittlung, die Sie jederzeit über Cookie-Einstellungen widerrufen können.
AkzeptierenMehr Informationen
Von Freiburg nach Istanbul. Von der Dreisam an den Bosporus. Der Unterschied könnte kaum größer sein. Als Fudder-Autorin Marlene Resch vor acht Monaten Freunden von ihren Plänen erzählte, einen Erasmus-Aufenthalt in der Türkei zu verbringen, waren die verwundert: Warum ausgerechnet Istanbul, warum jetzt? Nach acht Monaten zieht sie eine erste Bilanz.
Dann sitze ich gemütlich mit Deutschen, Türkinnen und Türken und Deutsch-Türkinnen und -Türken zusammen und wir unterhalten uns über die unterschiedlichen Kulturen, anstatt uns gegenseitig Vorwürfe zu machen. Nazi-Vergleiche und Hetze gegen Deutschland haben hier – im Zwischenmenschlichen – keinen Platz. Die Frage, ob Deutschland eine Demokratie sei, ist dann als Witz gemeint, ein Nazi bin ich nur, wenn ich vergesse, den Müll raus zubringen und über "Danke Merkel"-Memes kann man gemeinsam lachen.
Die Verbundenheit von Deutschland und der Türkei bekomme ich erst hier richtig zu spüren – obwohl sie doch in Berlin und Freiburg auch direkt vor meiner Haustür lag. So viele Geschichten begegnen mir von Türken, die Verwandte in Deutschland haben, selbst eine Zeit ihres Lebens dort verbracht haben oder für die meine Heimat ein Sehnsuchtsort ist. Die gemeinsame Geschichte und jedes persönliche Schicksal, das damit zusammenhängt: die deutsche Schmuckverkäuferin auf dem Istanbuler Basar, die türkische Ärztin in der Berliner Nachbarschaft, all die deutsch-türkischen Kulturfeste, Stiftungen und jede deutsch-türkische Freundschaft. Sollen wir das alles vergessen und über den Haufen werfen, weil ein wütender Herrscher gegen Deutschland schimpft?
Natürlich nicht. Aber gänzlich ausblenden können wir Politik und Diplomatie in solch angespannten Tagen leider auch nicht. Gerade während des Wahlkampfs für das Verfassungsreferendum war für mich kein Entkommen von der Thematik. Lief ich zur Bushaltestelle, zum Einkaufen, wohin auch immer, schallten mir die Wahlsongs des Ja- und Nein-Lagers entgegen. Da wurden Flyer verteilt, Slogans geschrien und Plakate, Wimpel und Leinwände vollendeten die Reizüberflutung – ein emotionaler Wahlkampf wie ich ihn aus Deutschland nicht kannte.
Erst am Wahltag selber, als der Lärm verstummt und die riesigen Plakate weg waren, merkte ich, wie ich die ganze politische Anspannung in mir aufgesaugt und Erdogan mich diese Nacht in meine Träume verfolgt hatte. Es ist ein absurdes Gefühl, wenn man am "Schicksalstag" der neuen Heimat dann in einem deutschen Ostergottesdienst in Istanbul sitzt und in eine Art Paralleluniversum eintaucht. Doch die absurde Realität kehrt zurück, wenn zwischen Osterkranz und bemalten Eiern Gespräche über Krisenevakuierung und Hamstervorräte geführt werden, wenn deutsche Journalisten zur Arbeit eilen und Deutsch-Türken sich auf den Weg zu den Wahllokalen machen. Aber im Garten der deutschen Kirchengemeinde wird einem auch jene Sicherheit wieder bewusst, die die Türken an diesem Tag nicht haben: Wenn alles zu wild wird, kann ich die Türkei Dank meines Passes jederzeit hinter mir lassen.
herrscht Katerstimmung
Doch mit jedem Tag, der seither vergeht, kehren Rationalität, Realität und Alltag zurück. Am Montag nach dem Referendum, als ich an der Uni einen Vortrag über die Doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland halte, wirken alle kollektiv verkatert: von den Strapazen der vorherigen Nacht, der letzten Wochen. Als ich das Contra-Argument des doppelten Wahlrechts erwähne, geht ein Raunen durch die Klasse – schließlich hatten in Deutschland 63 Prozent der türkischstämmigen Wahlberechtigten, die am Referendum teilgenommen haben, mit Ja gestimmt. "Die Wunde ist noch frisch", sagt die Dozentin und lacht müde. Ich zitiere eine Forsa-Studie, laut der 53 Prozent der Deutschen die doppelte Staatsbürgerschaft befürworten. Nach dem Referendum ist das mittlerweile überholt: Nun, so der Deutschlandtrend, lehnen 58 Prozent eine doppelte Staatsbürgerschaft ab. Zwischen Deutschland und der Türkei scheint also nichts einfacher zu werden. Bleibt nur, sich in kulturell bunter Runde auf einen türkischen Çay zu treffen und zu versuchen, im Zwischenmenschlichen wieder etwas Einfachheit zu finden.
Kommentare
Liebe Leserinnen und Leser,
leider können Artikel, die älter als sechs Monate sind, nicht mehr kommentiert werden.
Die Kommentarfunktion dieses Artikels ist geschlossen.
Viele Grüße von Ihrer BZ