Künstler im Landkreis
Florian Mehnert will Denkprozesse auslösen
Sehen, wahrnehmen, sichtbar machen – was den in Müllheim lebenden Künstler Florian Mehnert antreibt, führt nicht immer zu einem Bild oder einer Installation mit ästhetischem Potenzial.
Do, 2. Jun 2016, 0:00 Uhr
Müllheim
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In Weil am Rhein soll in Zusammenarbeit mit dem Kunstverein und der örtlichen Geschäftswelt den Kunden die Möglichkeit geboten werden, ihre Einkaufs- und Bewegungsprofile, die anhand einer App erstellt werden (die Daten werden verschlüsselt und sind gegen Missbrauch geschützt), im "Büro der Freiheit" als grafische Darstellung zu erleben. Gleichzeitig können im Weiler Stapflehus, dem Domizil des dortigen Kunstvereins, die Bewegungsprofile der anderen Nutzer und die Muster, die sie bilden, eingesehen werden. Vorträge und Diskussionsrunden sollen "Freiheit 2.0" begleiten, Start des einmonatigen sozialen Großexperiments ist der 17. September. Das Projekt lebt von der Teilnahme der Öffentlichkeit. Jeder Besucher kann selbst Teil davon werden.
Die Vorbereitungen sind aufwändig: Fundraising, Sponsorensuche, Organisation, technische Planung, Information – alles Tätigkeiten, die man eher bei einem Manager als bei einem Künstler vermutet. "Ich arbeite mit einem total erweiterten Kunstbegriff", sagt Mehnert.
Getrieben von einem inneren Unbehagen widmet er sich schon länger dem Thema Internet und dem Wachsen der Möglichkeiten zumeist unbemerkter digitaler Überwachung. Das erste Projekt, mit dem er breite Aufmerksamkeit erregte, hieß "Waldprotokolle". Es besteht aus 22 Soundtracks, die er 2013 in verschiedenen Wäldern Deutschlands als Gesprächsfetzen von zufällig an den versteckten Mikrofonen vorbeispazierenden Menschen aufgenommen hat. Eine Anzeige wegen Verletzung der Vertraulichkeit des Worts und die Einstellung des Verfahrens durch die Freiburger Staatsanwaltschaft katapultierten Mehnert zum ersten Mal ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. "Künstler darf Wald verwanzen", schrieb die Süddeutsche Zeitung im Dezember 2013. Im Jahr drauf folgte "Menschentracks", eine Videoinstallation mit 42 Sequenzen aus gehackten privaten Smartphones, die auf miteinander durch Kabel verbundenen Tablets in Endlosschleifen gezeigt wurden.
Millionenfache Reaktionen rund um den Globus löste "11 Tage" aus, eine Installation mit einer Laborratte, auf die eine Waffe gerichtet war, die Internet-User per Mauszeiger bewegen konnten. Nach einem sekundengenauen Countdown von elf Tagen sollte eine Abstimmung enden, die entschied, ob die Ratte am Leben bleiben soll oder nicht. Der Shitstorm, der daraufhin weltweit losbrach bis hin zu offenen Morddrohungen, war so gewaltig, dass Mehnert sich entschloss, das Experiment abzubrechen. Im Rückblick bezeichnet er es als sein bisher erfolgreichstes Projekt, weil es eine unerwartete Vielzahl von Reaktionen ausgelöst hat. "Man hat mich oft gefragt, wo da die Kunst ist", sagt er. Mehnert folgt mit seinem Kunstbegriff dem der "Sozialen Plastik" von Josef Beuys, der Kunst als kreative Mitgestaltung an der Gesellschaft sieht. Und da leistet auch eine dumpfe Pöbelei als E-Mail ihren Beitrag.
Kunst wird für Florian Mehnert das, was über reine Materialität hinausgeht und in Menschenköpfen Denkprozesse auslöst. Dabei trifft er schmerzhaft genau ins Zentrum sich anbahnender globaler Problematiken: Kurz nachdem die "Waldprotokolle" erschienen, kochte der NSA-Skandal auf, "11 Tage" wurde durch die Nachrichten von gezielten Tötungen missliebiger Personen durch Drohnen auf unheimliche Weise in die Realität transponiert, mit seinen Fotos aufgestapelter Körper von Flüchtlingen in der Arbeit "Refugee Stacks" nahm er die darauf einsetzende Massenflucht über das Mittelmeer vorweg.
Ob es bei "Freiheit 2.0" bei Denkanstößen bleibt oder ob daraus eine echte Kontroverse entsteht, weiß Mehnert noch nicht. "Die Big Four wollen nicht, dass ein Bewusstsein entsteht, wie wertvoll die persönlichen Daten einzelner Individuen sind, die sie massenhaft und kostenlos sammeln", sagt er. Für Spielerei, Ironie oder gar offenen Humor ist hier, wie in seinen anderen Arbeiten auch, kein Platz. Zu gewaltig, komplex und ernsthaft ist das Thema.
Wie sieht der Alltag in Leben von Florian Mehnert aus? "Ich habe keine Freizeit, Beruf und Privatleben sind für mich keine Gegensätze", meint er lakonisch. Seine Projekte begleiten und beschäftigen ihn Tag und Nacht. Ob sie Geld abwerfen, war noch nie ein Aspekt für ihn, auch in jenen Zeiten nicht, als er auf Nebenjobs und die Unterstützung der Familie angewiesen war. "Kunst ist kein Tauschgeschäft, welches dem Arbeitsmarkt entspricht. In der Kunst heißt es nicht selbstverständlich: Leistung gegen Geld", sagt Mehnert und man hört auch ein wenig Stolz, als er berichtet, dass viele von seiner Unabhängigkeit fasziniert sind. Ein Markenzeichen aufzubauen, damit der Kunstmarkt ein Wiedererkennungsmerkmal hat, kommt für ihn nicht in Frage, genauso wenig braucht er die Hilfe von Galerien oder gezieltes Marketing. Einladungen zu Vorträgen und Workshops bekommt er inzwischen auch so aus ganz Europa.
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