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Kommentar

Wie ich lernte, Israel besser zu verstehen

Harald Stutte war viermal in Israel und erlebte ein Land, das bunt, liberal, divers war - und gleichzeitig jüdisch-orthodox, konservativ und islamisch. Ein Land, umgeben von Feinden.  

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"Zehn Tage Israel genügten, um me...ael-Besuch. (Symbolbild aus Jerusalem)  | Foto: Adobe Stock
"Zehn Tage Israel genügten, um mein über Jahre fest gefügtes Weltbild ins Wanken zu bringen", sagt Harald Stutte über seinen ersten Israel-Besuch. (Symbolbild aus Jerusalem) Foto: Adobe Stock

Als ich das erste Mal nach Israel reiste, Mitte der 1990er-Jahre, da hatte ich kaum Gepäck dabei – stattdessen einen gigantischen Packen an Vorurteilen. Man muss das verstehen: Die 1980er-Jahre hatten mich geprägt, Nato-Nachrüstung, saurer Regen, Befreiungsbewegungen, wohin man blickte – von Nicaragua bis in den Nahen Osten. Chile, Südafrika, Palästina. Diese Progressiv-gegen-Reaktionär-Schablone schien einfach überall zu passen. Ganz dem Zeitgeist erlegen, besaß ich auch irgendwann ein schwarz-weiß durchwebtes Palästinensertuch, gekauft auf einer Fahrt mit meinem Kumpel Christian in einem alten Peugeot durch die algerische Sahara – gefühlt also beinahe am Originalschauplatz!

Israel, der Aggressor

Das Tuch, ich trug es im Sommer, ich trug es im Winter, war mehr als ein wärmendes Accessoire, es war ein politisches Bekenntnis. Der Nahe Osten war die Region, die alle elektrisierte. Mich auch während meines Studiums an der Universität Hamburg. Professoren wie der Orientalist Udo Steinbach, dazu Autoren wie Peter Scholl-Latour oder Gerhard Konzelmann erklärten die Welt.

Und die schien sehr übersichtlich: Da war ein Aggressor, nämlich Israel, der war hochgerüstet, wurde zudem vom "Weltpolizisten" USA unterstützt. Und es gab die Schwachen, die für ihr Recht auf Leben in Selbstbestimmung kämpften. Es erinnerte an die simple Indianer-Romantik aus Kindheitstagen. Nur dass der große Häuptling eben nicht Winnetou hieß, sondern Jassir Arafat, eine Ikone mit Kufiya, cooler Sonnenbrille, stets zwei Finger zum Victory-Zeichen in die Kameras gereckt.

Das reale Israel brachte mein Weltbild ins Wanken

Schon auf dem Weg ins Gelobte Land, auf dem Frankfurter Flughafen, schien sich mein schräges Weltbild zu bestätigen: Ich wurde von israelischen Sicherheitsleuten interviewt, fühlte mich unter Generalverdacht gestellt, das war lange vor 9/11 und daher irritierend. Doch weil ich unbedingt nach Israel wollte, nahm ich das zähneknirschend in Kauf, ich wollte ja endlich mitreden können.

Zehn Tage Israel genügten, um mein über Jahre fest gefügtes Weltbild ins Wanken zu bringen. Das kleine Land erlebte damals eine beispiellose Serie von Anschlägen – an Bushaltestellen, an Schlangen vor Diskotheken, in Cafés. Junge und alte Menschen wurden beinahe im Wochenabstand zerfetzt, während gleichzeitig unter der Regie des US-amerikanischen Präsidenten Bill Clinton in Oslo und Camp David mit Arafat über eine Zweistaatenlösung verhandelt wurde.

Das diverse, weltoffene Israel

Ich erlebte ein Land, das diskutierte, kontrovers, aber fair. Ich lernte israelische Araber kennen, die dieses Israel liebten, dazu linke Israelis, die ihre Armee lobten. Und rechte Israelis, die ihre Regierung zum Teufel wünschten. Es war irritierend. Ich lernte ein Land kennen, das war bunt, liberal, feminin, schwul, pazifistisch, sexy, gleichzeitig jüdisch-orthodox, konservativ, islamisch.

Ich traf Palästinenser, Drusen, Bahai, Christen, schwarze Israelis mit äthiopischen Wurzeln und andere mit blonden Haaren und blauen Augen. Ein Land im Hightech-Rausch mit einer großartigen Literatur- und Musikszene. In den vergangenen 20 Jahren wurden allein neun Nobelpreise (Chemie und Wirtschaftswissenschaften) an Israelis verliehen – mehr als an Menschen aus der gesamten arabischen Staatengemeinschaft, seit es diese Preise gibt.

Die Sympathie für Israel wuchs

Ein Land, das an seiner schmalsten Stelle nur 15 Kilometer breit ist und von Feinden umgeben war, die es nicht einfach nur kritisieren, es ändern oder zu Kompromissen zwingen wollten – nein, deren erklärtes Ziel die Vernichtung Israels samt der dort lebenden Menschen war. Und noch heute ist. Ich erlebte ein Land, das oft überhart auf Anfeindungen reagierte. Doch damals auch mit sehr viel Empathie in Form von Hilfsprojekten seine palästinensischen Nachbarn, die noch nicht unsichtbar hinter Mauern lebten, unterstützte. Eine liberale, demokratische Insel in einem Ozean des Hasses.

Mein Verständnis für die Israelis wuchs. Proportional dazu fiel es mir zunehmend schwer zu verstehen, was die Palästinenserführer wollten, nachdem sie jeden Kompromissvorschlag vom Tisch fegten, stets das Maximalziel im Visier – weil sie fürchteten, im innerpalästinensischen Wettbewerb von Hardlinern überboten zu werden. Sie spielten "Alles oder nichts" – und erreichten doch allzu oft nichts.

"Für das Land, das Israel aufgab, bekam es im Gegenzug nicht den versprochenen Frieden, sondern Raketen, deren Stellungen näher ans Kernland rückten."

Und ich lernte meine wichtigste Lektion: Dass es bigott ist, den Existenzkampf Israels angemessen zu beurteilen, während man in einem Café in Hamburg oder Berlin sitzt – aus der Perspektive eines westlichen Landes also, das umgeben von Nachbarländern wie Dänemark, Österreich, der Schweiz ist.

Seit damals habe ich drei weitere Male Israel besucht. Und ich musste mitansehen, wie dieser kompromissbereite Teil der Gesellschaft politisch allmählich ins Abseits geriet. Weil seine politischen Vertreter und Vertreterinnen kaum Substanzielles vorzuweisen hatten. Denn da, wo Israel zu Kompromissen bereit war, also besetzte Gebiete aufgab – ob auf dem Sinai, im Südlibanon oder in Gaza –, da füllten umgehend militante Feinde Israels das Vakuum. Für das Land, das Israel aufgab, bekam es im Gegenzug nicht den versprochenen Frieden, sondern Raketen, deren Stellungen näher ans Kernland rückten. Das wiederum führte dazu, dass sich der Ungeist der Kompromisslosigkeit auch in der israelischen Politik und Gesellschaft ausbreitete.

Der 7. Oktober hat Israel verändert

Der 7. Oktober 2023 war der Tag, an dem Israel 75 Jahre nach seiner Gründung endgültig in dieser gnadenlosen, brutalen Logik des Nahen Ostens angekommen war. Politisch hatte es sich schon zuvor ein Stück weit auf diese Logik eingelassen – indem es als Land die politische Verantwortung Führern übertrug, die dieses Prinzip der Gnadenlosigkeit sehr wohl verstanden hatten und virtuos bespielten: Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, vor allem aber dessen rechtsradikalen Kabinettskollegen Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir. Sie sind die personifizierten Antworten auf ein brutales Umfeld. Sie konnten sich in der einzigen Demokratie der Region durchsetzen, weil das liberale, das kompromissfähige Israel scheiterte. Weil die Menschen in Israel ihren liberalen Politikern nicht zutrauen, das Überleben dieses fragilen Staates zu gewährleisten.

Der kompromissbereite Teil der Gesellschaft hatte Israels Todfeinden, die seit Ausrufung der Staatsgründung am 15. Mai 1948 dem Land mit Vernichtung drohen, nichts entgegenzusetzen, mal abgesehen von Vernunft und Augenmaß. Das ist viel, aber zu wenig in einer Region, in der Furor dominiert. Nichts symbolisiert das Scheitern des liberalen, weltoffenen Israels auf dramatischere Weise als das Massaker, angerichtet am 7. Oktober 2023 von unter Drogen stehenden Dschihadisten unter den feiernden Jugendlichen des Supernova-Festivals in der Negevwüste nahe der Grenze zu Gaza.

Der Wunsch nach dem Wiedererwchen jenes liberalen Israels

Die Bilder, die uns seitdem erreicht haben und täglich erreichen, sind nicht minder verstörend: Die herumirrenden Menschen in der Trümmerwüste, die einst Gaza hieß. Tausende getötete Zivilisten, aus dem Südlibanon fliehende Menschenmassen. Eine Region am Abgrund. Israel weiß, dass es im Zweifel immer allein steht – gegen eine Welt von Feinden. Auch deshalb hat es sich auf diese Alles-oder-nichts-Logik eingelassen – und hat doch unendlich mehr zu verlieren als die andere Seite. Seine liberale, weltoffene Seele zum Beispiel, seinen Gründergeist.

Nichts wünsche ich diesem Land mehr als das Wiedererwachen dieses liberalen, weltoffenen Israels, das lediglich paralysiert und unsichtbar war, keineswegs aber tot. Sichtbar wurde es, als Hunderttausende auf den Straßen gegen die von Regierungschef Netanjahu geplanten Verfassungsänderungen oder für Verhandlungen für die Freilassung der Geiseln demonstrierten. Israels Genialität, seine Vielfalt und Wandelbarkeit – mögen sie auf die Region ausstrahlen.

Ressort: Kommentare

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Ulrich Mentz

1587 seit 26. Mai 2009

Wer hat denn durch den Bau von Siedlungen in den den Palästinenser zugewiesenen Gebieten gegen die auch von Israel unterzeichneten internationalen Abkommen unablässig verstoßen?

Heinrich Franzen

12175 seit 24. Feb 2010

Wenn in meiner Familie die Rede auf den Krieg kam, dann wurde nicht von den Alliiertem, den Amerikanern, den Engländern geredet, sondern von den Bombern. Rußland, wo meinen Vater der Tod ereilte, fand andere sprachliche Verarbeitung. Betroffene leiden an Wirkungen. Ist das Leid groß, schwindet auch die Differenzierung, mündet in einen gemeinsamen Nenner, wie >nie wieder Krieg< oder wenn es schlimm kommt,ein ein Feindbild, das um so farbiger wird, je mehr auch andere es aufarbeiten, ge-/missbrauchen.
Was im September1982 im Libanon, in den Lagern von Sabre und Schattila geschah ist in der Wahrnehmung der Betroffenen mit den Luftangriffen vergleichbar. Die Wirkung, die von der unseligen Allianz aus Israelis und Phalangisten ausging, wird bis heute als Massaker gesehen.
Whatabautism? Nein. Der dringende Appel an den Nachfolger Scharons und Schamiers, sich an die eigene Nase zu fassen. Dazu der Appell an die Medien und die Foristen, den 7. Oktober nicht als singuläres Ereignis zu betrachten. Nur so kann Frieden werden.
http://www.fr.de/politik/jahren-massaker-beirut-11389904.html


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