BZ-Serie "Gut und gesund essen" (1)
Was tut mir beim Essen eigentlich gut?
Heißes Wasser mit Ingwer und Chili oder Apfelessig pur oder Wer in der wissenschaftlichen Literatur nach Belegen für die Wirkung von Ernährungstipps sucht, stellt fest: Mit Fakten haben sie wenig zu tun.
Petra Kistler
So, 19. Mär 2017, 15:27 Uhr
Gesundheit & Ernährung
Thema: Ernährungstipps
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Geht es um die Gesundheit und um die schlanke Linie, scheinen Frauen – und Männer! – jede im Internet oder in der Werbung kursierende Empfehlung zu glauben.
Ernährungswissenschaftler können noch so viel Essvernunft predigen (siehe Hintergrund), gegen den Boom der kulinarisch-kalorischen Lehren, die das Blaue vom Himmel versprechen, kommen sie nicht an. Selbst noch so skurrile Heilsversprechen lassen sich offenbar besser verkaufen als schlichte, aber bewährte Ernährungsratschläge.
Im Internet finden sich zum Stichwort "Ernährungsberatung" knapp drei Millionen Treffer. Amazon listet 6501 Bücher allein zum Thema Abnehmen auf – und es werden sicher noch ein paar mehr werden.
Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht "neueste wissenschaftliche Erkenntnisse", "Nahrungsmittel, die das Leben verlängern" oder wenigstens eine "neue Wundermethode" zum Abspecken Hoffnungen wecken. Ob "Anti-Stress-Ernährung", "Die neue Anti-Krebs-Ernährung. Wie Sie das Krebs-Gen stoppen" oder "Richtig essen für die Faszien", in wohl keinem anderen Bereich gibt es so viel halbseidenes Pseudowissen, das sich als Wahrheit mit Gesundheitsgarantie verkauft. Das Dumme dabei: Die Ratgeber widersprechen sich ständig.
Lange galt Fett als Bösewicht. Fett macht fett. Das klang einleuchtend. Jetzt geht die Low-Carb-Welle um. Carb ist die Abkürzung für Carbohydrates, das englische Wort für Kohlenhydrate, die vom Teller verbannt werden sollen. Andere vermeintlichen Übeltäter haben Namen wie Laktose, Fruktose, Gluten oder Histamin.
Über Jahrhunderte war die entscheidende Frage: Wie werde ich satt? Je weniger wir uns um das Essen sorgen müssen, umso mehr leisten wir uns den Luxus, über die richtige Ernährung nachzudenken. Je unübersichtlicher die Welt wird, umso mehr versuchen wir, wenigstens auf dem Teller Ordnung zu schaffen. Gesucht wird das Patentrezept, das Wundermittel, das Superfood, mit dem sich Gesundheit, Idealfigur und vielleicht noch eine heile Welt zaubern lassen.
Ob Paleo-Diät, Trennkost oder Free From – Essen ist heute nicht nur Essen. Essen ist eine politische Haltung, ein Gesundheitsprogramm, eine Möglichkeit zur Selbstdarstellung, eine Weltanschauung, vielleicht sogar Religionsersatz. Doch je mehr die Ernährungswissenschaft forscht, desto deutlicher wird, wie hochkomplex – und wenig bekannt – der Stoffwechsel des Menschen ist.
"Vernünftig essen geht nur mit dem Einsatz von eigenen Ressourcen", sagt Doris Steinkamp, Ernährungsexpertin und langjährige Präsidentin des Verbands der Diätassistenten. "Kaufen Sie vernünftig ein – und machen Sie etwas draus." Doch je mehr die Menschen über das Essen reden, desto weniger scheinen sie es selbst zuzubereiten.
"Koch-Legastheniker" nennt die Gesellschaft für Konsumforschung die wachsende Gruppe der Herdverweigerer, die den Herd nur zum Aufbacken der Tiefkühlpizza braucht und das Aufgießen einer Fünf-Minuten-Terrine oder das Wälzen von fertig gewaschenem Salat in Fertigdressing für die Zubereitung einer Mahlzeit hält.
Nur 39 Prozent der Deutschen steht täglich am Herd. Die mit knapp 42 Prozent größte Gruppe bereitet sich fast nie selbst eine warme Mahlzeit zu. Zwölf Prozent sagen laut Ernährungsreport 2017, sie greifen nie zum Kochlöffel.
Gegessen wird heute immer und überall – aber nur noch selten zu Hause. "Frühstück und Mittagessen verlagern sich immer häufiger vom heimischen Tisch nach draußen", heißt es in einer Studie der Bundesvereinigung der deutschen Lebensmittelindustrie. Die größten Veränderungen seien nicht bei den Erwachsenen, sondern bei den Kindern und Jugendlichen festzustellen. Von den Drei- bis Fünfjährigen frühstückten vor zehn Jahren noch 77 Prozent daheim, heute sind es nur noch 67 Prozent. Nicht einmal die Hälfte der Kleinen nimmt das Mittagessen daheim ein.
Nichts gegen eine gute Kita- oder Schulküche. Essen ist aber mehr als die richtige Zusammenstellung der Nährstoffe. Essen ist auch Soulfood, Seelenkost, am Tisch wird geredet, gelacht, gestritten, gefeiert. Wenn die Familienmahlzeit ersetzt wird von der Angewohnheit, nach Belieben zum Kühlschrank zu schlurfen, etwas Tiefgefrorenes in die Mikrowelle zu schieben, um das Essen schweigend in sich hineinzuschaufeln, während im Fernsehen die Kochshow läuft, läuft etwas schief.
Essen war einmal so selbstverständlich wie Atmen. Irgendwann ist eine sehr komplizierte Angelegenheit geworden. Eine Kartoffel ist keine Kartoffel mehr, sondern ein kohlehydratreiches Lebensmittel. Aus Fischen wurde die Quelle für Omega-3-Fettsäuren. Da viele Menschen glauben, Obst und Gemüse enthalte heute weniger Vitamine als früher, greifen sie zu – in der Regel überflüssigen, manchmal sogar schädlichen – Nahrungsergänzungsmitteln. Umsatz in Deutschland: mehr als eine Milliarde Euro.
Kaum ein Nahrungsmittel gilt noch als unverdächtig. Es könnte ungesund, unverträglich, unfair produziert oder der Konsum moralisch nicht vertretbar sein. Weshalb fürchten sich Menschen vor Nahrungsmitteln, obwohl noch nie so gut und engmaschig kontrolliert wurde?
Vielleicht ist es eine Reaktion auf das riesige Angebot. Supermärkte mit 25 000 Produkten in den Regalen und Kühltheken sorgen nicht nur für Begeisterung, sondern für auch Entscheidungsstress. Joghurt mit oder ohne Laktose? Fettreduziert oder probiotisch? Aus Kuhmilch oder aus Schafsmilch? Ohne Zusatzstoffe oder mit einem extra hohen Proteingehalt? Bio oder doch lieber das Angebot der Woche? Je größer die Auswahl, desto komplizierter die Entscheidung. Wer schaut sich schon alle Verpackungen genau an, ruft mit dem Handy Beurteilungen ab und vergleicht?
In all den Debatten über eine gesunde Ernährung kommen Geschmack und Genuss zu kurz. Der Mensch ernährt sich nicht, er isst. Die beste Ernährung ist die, auf die man Lust hat, die einem schmeckt und die einem bekommt – und das mit Maß. Das ist zwar nicht neu, aber es stimmt. Und dann gibt es noch die Erkenntnis, dass das Leben nicht nur aus Gesundheitsprävention besteht, sondern auch aus einem frischen Hefezopf mit Marmelade am Sonntagmorgen.
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung hat zehn Regeln für eine vollwertige Ernährung aufgestellt:
1. Vielfältig essen
Nährstoffreiche und energiearme
Lebensmittel kombinieren.
2. Getreide und Kartoffeln
Brot, Getreideflocken, Nudeln, Reis und Kartoffeln enthalten reichlich Vitamine, Mineralstoffe sowie Ballaststoffe und sekundäre Pflanzenstoffe.
3. Fünfmal Gemüse und Obst
Fünf Portionen Gemüse und Obst am Tag, möglichst frisch, möglichst saisonal, nur kurz gegart oder gelegentlich auch als Saft oder Smoothie.
4. Mehr Fisch als Fleisch
Milch und Milchprodukte täglich, Fisch ein- bis zweimal in der Woche, Fleisch, Wurstwaren sowie Eier in Maßen genießen.
5. Fett in Maßen
Bevorzugen Sie pflanzliche Öle und Fette. Achten Sie auf unsichtbares Fett, das in Gebäck, Süßigkeiten, Fast Food und Fertigprodukten enthalten ist.
6. Wenig Zucker und Salz
Mit Kräutern, Gewürzen und wenig Jod- oder Fluoridsalz würzen. Zucker eher meiden.
7. Reichlich Flüssigkeit
Trinken Sie rund 1,5 Liter am Tag, am besten Wasser. Zuckergesüßte Getränke nur selten, Alkohol nur gelegentlich und nur in kleinen Mengen trinken.
8. Schonende Zubereitung
Garen bei möglichst niedrigen Temperaturen erhält den Geschmack, schont die Nährstoffe und verhindert die Bildung schädlicher Verbindungen.
9. Bewusst genießen
Nicht nebenbei essen, sondern eine Pause einplanen. Wer bewusst und langsam isst, wird früher satt.
10. In Bewegung bleiben
30 bis 60 Minuten Bewegung und Sport am Tag helfen, das Gewicht zu halten.
- Dossier: Gut und gesund essen
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