Unter Mädchen und Jungen, die ihre Eltern nie mehr wiedersehen
Ein Jahr in die Dritte Welt, um zu helfen: Von den Hürden bei der Jobsuche, der Arbeit im Kinderheim und schier unglaublichen Erlebnissen in Lima.
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Glücklicherweise lernte ich über das internationale Frauenhaus "Villa Courage" in Freiburg eine Peruanerin kennen, die mir anbot, kostenlos im Hause ihrer Familie in Lima zu wohnen. Im September 2001 flog ich also in die Hauptstadt Perus. Ein bisschen Spanisch konnte ich, alles andere wollte ich dann vor Ort erledigen.
Über verschiedene Personen, die mir bei meiner Jobsuche halfen, lernte ich den Psychologen Philipe kennen. Er arbeitete in mehreren Kinderheimen und Waisenhäusern und vermittelte mir so den Platz bei "agape", einem katholischen Kinderheim. Die siebzehn Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren waren aus den verschiedensten Gründen hier: Misshandlung oder sexueller Missbrauch in der Familie, einige waren Waisen oder ehemalige Straßenkinder, andere konnten von ihren Eltern nicht mehr ernährt werden. Dreimal die Woche kam Philipe zu agape, rief die Kinder einzeln zu sich und betreute sie psychologisch. Die Direktorin Elsa Chigne Campos verwaltete die Spendengelder, mit denen das Heim finanziert wird. Meine Aufgabe war die Betreuung der Kinder tagsüber. In den Schulferien von Januar bis März mussten die Kleinen den ganzen Tag im Haus verbringen. Ich kam morgens, nach dem Frühstück. Wir machten Ballspiele in dem kleinen Hof und manchmal gingen wir auch in den Park zwei Häuserblocks entfernt, was jedoch oft Probleme verursachte. Die neunjährige Alicia zum Beispiel war früher ein Straßenkind und konnte sich nur schwer an das geregelte Heimleben gewöhnen. Ausflüge in den Park nutzte sie, um abzuhauen - manchmal blieb sie tagelang weg. Wenn wir bastelten und malten hatten die Kinder so viel Spaß, dass sie ihre Vergangenheit, die sie sonst so traurig, teilnahmslos oder schweigsam machte, vergaßen. Der kleine César gab mir immer seine fertigen Arbeiten, damit ich sie gut verwahre, bis er wieder nach Hause käme, um sie dann seiner Mutter zu schenken. Ich wusste, dass er seine Eltern nie wieder sehen würde.
Im April ging der Unterricht an der staatlichen Grundschule wieder los. Morgens bis zwölf Uhr mussten die Kinder Hausaufgaben machen. Nach dem Mittagessen zogen sie die Schuluniform an, denn um 14 Uhr begann der Unterricht. In dieser Zeit wurden die Jungen und Mädchen viel unausgeglichener und aggressiver. Einige zerschnitten ihre Schulhefte, weil sie die Hausaufgaben nicht schafften. Allein war ich nicht in der Lage, mich um alle gleichermaßen zu kümmern. Täglich kam es zu Auseinandersetzungen, die immer gewalttätig endeten. Ein harmloser Streit und schon schlug Marcelino dem zwei Jahre älteren Waly ins Gesicht und zertrümmerte dabei seine Brille. Dieser schlug zurück und hinterließ eine blutige Nase. Die Kleineren bissen sich und kratzten sich blutig. Sie hatten es nie gelernt, einen Streit gewaltlos zu lösen. Nach einigen Wochen bekam ich zufällig mit, dass sogar eine der Betreuerinnen im Heim die Kinder schlug. Claudia zeigte mir ihre blauen Flecken und auch die anderen Kinder erzählten mir davon.
So etwas war für mich einfach unglaublich. Als ich die Betreuerin auf die Prügel ansprach, sagte sie, "dass die Kinder den Gürtel brauchen, denn anders hören sie nicht". Eines Tages gab es wieder mal Probleme mit Alicia. Wir waren bei den Hausaufgaben und sie war sauer, dass ich César half und nicht ihr. Sie wurde laut, störte die anderen Kinder, wollte mich provozieren. Als ich sie nicht beachtete, ging sie in die Küche und holte das große Brotmesser. Erst bedrohte sie einige Kinder, dann setzte sie das Messer an ihre Arme und sagte, sie werde sie jetzt die Arme aufschneiden. Als ich auf sie zu ging bedrohte sie mich mit dem Messer. Die anderen Kinder riefen die Betreuerin zur Hilfe und diese konnte Alicia das Messer abnehmen.
Als Ende Juni der peruanische Winter begann, waren meine Tage gezählt. Schneller als es mir lieb war, stand ich in den Schlafzimmern der Kinder und verabschiedete mich. Ein letztes Mal umarmte ich sie, sagte ihnen, dass sie auf sich aufpassen und in der Schule anstrengen sollten. Das fiel mir unheimlich schwer, zumal sie nicht verstanden, warum ich sie verließ. Viel schlimmer aber war es, zu wissen, dass ich sie in diesem Elend zurückließ.
Aurea Steiner
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