Vor der Bundestagswahl
Südbadische Wirtschaft will Vorfahrt für die Industrie
Unternehmer und Gewerkschafter aus Südbaden rufen kurz vor der Bundestagswahl in seltener Einigkeit die nächste Regierung dazu auf, mit grundlegenden Reformen Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze zu sichern.
Sa, 15. Feb 2025, 20:00 Uhr
Der Sonntag
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![Läuft nicht mehr rund: Ein Mitarbeiter... Produktion der Zylinderkopfdichtungen | Foto: Sina Schuldt (dpa) Läuft nicht mehr rund: Ein Mitarbeiter... Produktion der Zylinderkopfdichtungen | Foto: Sina Schuldt (dpa)](https://ais.badische-zeitung.de/piece/18/67/4f/9a/409423770-w-640.jpg)
Fragt man dieser Tage Gewerkschafter in Schlüsselbranchen der regionalen Wirtschaft nach ihren Wünschen an die nächste Bundesregierung, dann ist nichts zu hören von möglichen Wohltaten für die Beschäftigten. Stattdessen treibt die Arbeitnehmervertreter die Sorge um die Zukunftsfähigkeit der Arbeitsplätze um.
"Die Zeit drängt", sagt Sonja Dif, die Chefin der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) im Bezirk Freiburg. Dif fordert für die Zeit unmittelbar nach der Wahl am 23. Februar: "Die Industrie muss auf Platz eins der politischen Agenda." Zuletzt dominierte im Wahlkampf stattdessen die Migrationspolitik.
Gewerkschafterin Dif meint: "Die Mechanismen globalisierter Industriemärkte scheren sich nicht um deutsche Befindlichkeiten." In der hiesigen Industrie bestimmten "Verlagerungen, Stilllegungen und Personalabbau schon jetzt das Bild". Die Unsicherheit in den Belegschaften sei groß – "nicht nur mit Blick auf die industriellen Perspektiven unseres Landes, sondern auch mit Blick auf ihre persönliche Zukunft". Dif sagt: "Da unsere Mitglieder meist am Anfang der Wertschöpfungskette arbeiten, wissen sie nur zu genau, wie wichtig eine erfolgreiche Industrie für das deutsche Geschäftsmodell insgesamt ist." Jeder dritte Arbeitsplatz im Land hänge direkt oder indirekt von ihr ab. "Sie ist Garant unserer Exporterfolge, der sprudelnden Einnahmen der öffentlichen Kassen und unseres gesellschaftlichen Wohlstands", sagt Dif.
Sonja Dif fordert eine überparteiliche Allianz zur Reform der Schuldenbremse
Das deutsche Wohlstandsmodell sieht die Gewerkschafterin genau wie die Arbeitgeber in Gefahr. "Die unzureichende Investitionstätigkeit der vergangenen Jahre spiegelt sich inzwischen auch in den Produktivitätskennziffern der Industrie", erklärt Dif. "In der Chemie beispielsweise ist sie mit einer Ausnahme seit 2018 rückläufig. Das kostet Wettbewerbsfähigkeit." Sie fordert, eine Investitions- "mit einer Produktivitätsoffensive zu verbinden". Greife der Staat unterstützend ein, sollten nicht bestimmte Endprodukte subventioniert, sondern die gesamten Wertschöpfungsketten gefördert werden. Konkret sagt Dif: "Eine neue Bundesregierung muss an allen Stellschrauben drehen, damit die Strompreise nicht Investitions- und Modernisierungskiller werden." Weder die Unternehmen noch der Staat könnten die klimagerechte Modernisierung der Industrie aus dem laufenden Haushalt finanzieren, meint Dif. Daher fordert die IGBCE "eine überparteiliche Allianz zur Reform der Schuldenbremse".
Ein Aufweichen der Schuldenbremse wollen auch SPD, Grüne, Linke und das BSW. FDP und AfD lehnen das klar ab. Die Union sah das lange genauso; zuletzt zeigte sich Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz aber gesprächsbereit – ohne konkret zu sagen, wie eine Reform aussehen könnte.
Dringenden wirtschaftspolitischen Handlungsbedarf sieht auch Eberhard Liebherr. Der Freiburger Unternehmer und Präsident der Industrie- und Handelskammer (IHK) Südlicher Oberrhein sagte Anfang Februar bei der traditionellen Pressekonferenz zur konjunkturellen Lage: "Es reicht nicht, auf den Aufschwung zu warten. Es sind dringend Strukturveränderungen notwendig." Die nächste Bundesregierung müsse zahlreiche Weichen neu stellen. Liebherr klagte über hohe Unternehmenssteuern, teure Energie und andere gestiegene Produktionskosten, über eine aus seiner Sicht desolate Infrastruktur, eine abnehmende Leistungsbereitschaft und eine überbordende Bürokratie. Viel zu tun für die wie auch immer geartete neue Koalition in Berlin!
Das Vertrauen in den Standort Deutschland nimmt ab
Liebherr stützt seine Analyse auf eine Umfrage unter den Mitgliedsunternehmen. Vergleichsweise gut laufe es nur im Großhandel und bei Dienstleistern, die weniger vom Welthandel abhängig sind als die exportstarke Industrie. Ansonsten nehme das Vertrauen in den Standort Deutschland ab, weshalb hierzulande weniger investiert werde. Die Folge: Jeder vierte IHK-Mitgliedsbetrieb plane, Arbeitsplätze abzubauen. Sorgenkinder bleiben vor allem die Industrie und die Bauwirtschaft. IHK-Vize Alwin Wagner sagte: "Umso wichtiger ist es, dass die neue Bundesregierung die strukturellen Probleme des Standorts Deutschland mit Hochdruck angeht" – etwa mit Investitionen in die Infrastruktur. Und: "Um den innovativen Kräften in den Unternehmen wieder Raum zu verschaffen, ist ein Abbau der übermäßigen Bürokratie das Gebot der Stunde."
Auch Norbert Göbelsmann, der Chef der Industriegewerkschaft Metall in den Regionen Freiburg und Lörrach, fordert einen Kurswechsel. Dazu zählten mehr Investitionen in die Verkehrs- und die Energieinfrastruktur, in Bildung und Forschung sowie in Digitalisierung. Mitunter klingt er dabei wie ein Arbeitgebervertreter: "Die Unternehmen brauchen verlässliche Leitplanken, welche Entwicklungen und Investitionen von heute sich morgen wirtschaftlich lohnen können." Nötig seien auch kürzere Genehmigungsverfahren. Schließlich brauchen "wir einen robusten Zusammenhalt in der EU, um in Trump-Zeiten handelspolitisch nicht unter die Räder zu kommen".
Der Unternehmerverband WVIB macht dringenden Reformbedarf geltend
Der Wirtschaftsverband Industrieller Unternehmen Baden (WVIB) meldete jüngst auf Jahressicht einen Umsatzrückgang seiner Mitglieder von fast fünf Prozent. Geschäftsführer Christoph Münzer sprach davon, dass die badische Industrie SOS funke – obwohl es erste Anzeichen gebe, dass die Talsohle des Abschwungs erreicht sein könnte. Der WVIB macht dringenden Reformbedarf geltend – auf Basis einer Umfrage unter seinen Mitgliedern. 100 Prozent plädieren demnach für Steuersenkungen, Deregulierung und für schnellere Genehmigungsverfahren. Die Mehrheit der WVIB-Firmen trauen eine solche Wirtschaftswende am ehesten einer schwarz-gelben Koalition zu. Dagegen möchten mehr als drei Viertel keine Erhöhung des Mindestlohns und auch keine Lockerung der Schuldenbremse. 95 Prozent sprechen sich gegen einen Austritt Deutschlands aus der EU aus (den die AfD fordert) und gegen eine drastische Beschränkung der Zuwanderung.