US-Geschichte
"Selma": Ein Etappensieg der Freiheit
Neu im Kino: "Selma" über Martin Luther Kings Marsch nach Montgomery im Jahr 1965 ist zwar kein korrektes Geschichtsdrama – aber auf jeden Fall ein mitreißendes Epos der großen Gefühle.
Mi, 18. Feb 2015, 0:00 Uhr
Kino
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Neun Jahre später bekam er den Friedensnobelpreis – und hier setzt das Drama "Selma" ein: King (David Oyelowo) und seine Frau Coretta (Carmen Ejogo) machen sich in Oslo für den Festakt schick, ihm missfällt die Kostümierung, die so gar nicht zum Kampf der Brüder zuhause passe. Dann geht er und nimmt den Preis entgegen – im Namen der Bürgerrechtsbewegung, die danach dränge, "ein Reich der Freiheit und der Herrschaft der Gerechtigkeit zu errichten", wie er in seiner fulminanten Dankesrede sagt.
Diese doppelte Blickrichtung, auf die Privatperson und den charismatischen Bürgerrechtler, wird Regisseurin Ava DuVernay ("Middle of Nowhere") während ihres gesamten Films beibehalten. Man hat der Amerikanerin vorgeworfen, sie sei historisch ungenau, unterschlage etwa Kings zahlreiche außerehelichen Affären oder porträtiere Präsident Lyndon B. Johnson nicht richtig. Mag sein, dass "Selma" nicht als korrektes Geschichtsdrama taugt, auf jeden Fall aber als mitreißendes Epos der großen Gefühle, die nie ins falsche Pathos kippen.
Das liegt vielleicht auch daran, dass alle Hauptdarsteller Briten sind, also eine Art landsmannschaftliche Distanz zum Thema besitzen, vor allem aber an DuVernays Schauspielerführung und ihrem Händchen für wuchtiges und zugleich nachdenkliches Kino in bester konventioneller Machart. Der Rhythmus reicht von der Zeitlupe bis zum rasanten Schnitt, die Musik (Jason Moran) lenkt die Emotionen, aber nicht hinterrücks, und die Kamera (Bradford Young) findet starke Bilder, die sich ins Gedächtnis graben. Mal sind sie schockierend wie die Explosion, die beim Attentat des Ku Klux Klan auf eine Baptistenkirche in Alabama im Jahr 1963 vier schwarze Mädchen aus kicherndem Glück in den Tod bombte, mal intim wie Kings Ringen um Gewaltfreiheit, mal von geradezu ikonographischer Kraft wie sein Kniefall von Selma.
Auch der dramatische Fokus ist klug gewählt: Der Film fährt nicht eine notwendig an der Oberfläche bleibende Gesamtbiografie Kings bis zu seiner Ermordung auf, sondern konzentriert sich auf die wenigen Wochen des Marsches von Selma nach Montgomery, mit dem sich die Schwarzen das Wahlrecht erkämpften, 100 Jahre nachdem es ihnen verfassungsmäßig garantiert worden war. Wenn das nicht ganz nach dem Geschmack der Oscar-Juroren ist! Da wundert es schon, dass "Selma" nur zweimal nominiert wurde (bester Film und bester Song), Ava DuVernay aber leer ausging, ebenso David Oyelowo, der King bis in Mimik und Sprechduktus kongenial verkörpert.
berührend und
glänzend gespielt
Eine Szene von ungeheurer stiller Dramatik: Martin Luther King führt die Demonstranten an, auf der Mitte der Brücke gibt die Polizei den Weg frei, King fällt auf die Knie zum Gebet, alle folgen seiner Geste, endlich steht er wieder auf – und dreht sich um, bricht den Marsch ab. Er wollte kein erneutes Blutvergießen riskieren, wie er später seinen enttäuschten und erzürnten Leuten erklärt. King interveniert nochmal beim Präsidenten (Tom Wilkinson) und gewinnt ihn endlich zum Mitstreiter für das uneingeschränkte Wahlrecht aller Amerikaner – Johnson beendet seine Fernsehansprache mit dem Wahlspruch der Bürgerrechtsbewegung, "We Shall Overcome".
Jetzt ist der Weg frei: Am 21. März ziehen Schwarze und Weiße Arm in Arm auf dem US-Highway 80 in die Hauptstadt von Alabama, geschützt von US-Army und National Guard und unterstützt von Stars wie Harry Belafonte, Peter, Paul & Mary, Sammy Davis Junior und Nina Simone. Nach fünf Tagen und vier Nächten erreichen sie Montgomery, und tags darauf hält Martin Luther King am State Capitol Building eine Rede vor 25 000 Menschen: Amerika hat Geschichte geschrieben, Glory und Hallelujah.
Aber während dieser packende, berührende und glänzend gespielte Film in der Feier der Freiheit endet, kommt einem die allerjüngste amerikanische Geschichte in den Sinn: Der Supreme Court höhlte 2013 – übrigens auf Initiative aus Alabama – den Rechtsschutz für schwarze Wähler aus, und die Erschießungen von Afroamerikanern wie Michael Brown aus Ferguson zeigen, dass die USA auch unter Obama längst nicht so united sind, wie Martin Luther King sich das erträumt hat.
"Selma" thematisiert das nicht, lediglich der oscarnominierte und ohrwurmschöne Song "Glory" nennt den Protest der Rosa Parks in einem Atemzug mit dem von Ferguson. Aber auch ohne plakativen Fingerzeig ist klar, dass die Rassendiskriminierung in Amerika noch nicht überwunden ist – und auch das macht den Film so nachhaltig eindrucksvoll: Der Triumph von Montgomery war nur ein Etappensieg.
– "Selma" von Ava DuVernay kommt morgen in die Kinos. (Ab 12 Jahren)
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