BZ-Interview
Sami Khedira: "Löw hört auf das Gefühl der Spieler"
Nach dem WM-Titel 2014 stieg Sami Khedira in den Kreis der Führungskräfte der Nationalelf auf. Über die Bedeutung der Kapitänsbinde, das Verhältnis zu Jogi Löw und die Gier nach Titeln spricht er im Interview.
Mi, 15. Jun 2016, 10:32 Uhr
Fußball-EM
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Nach dem WM-Sieg 2014 musste sich die deutsche Fußball-Nationalmannschaft neu sortieren. In den Kreis der Führungskräfte aufgestiegen ist Sami Khedira. Der 29-Jährige von Juventus Turin war ein Kandidat, als es darum ging, einen Ersatzkapitän für Bastian Schweinsteiger zu finden. Im Gespräch mit René Kübler erklärt Khedira, warum die Binde am Arm gar nicht so wichtig ist, wie man sich das Verhältnis zum Bundestrainer vorstellen muss und warum die Titelgier wieder groß ist.
Khedira: Das war ein klassisches Auftaktspiel. Das Wichtigste ist, dass wir gewonnen und zu Null gespielt haben.
BZ: Durchweg überzeugend war der Auftritt aber nicht.
Khedira: Weg vom Ergebnis müssen wir uns steigern. Aber so ein Turnier ist ein Marathon, kein Sprint.
BZ: Das nächste Gruppenspiel gegen Polen hat dennoch eine gewisse Bedeutung.
Khedira: Gegen Polen könnte es tatsächlich schon eine kleine Vorentscheidung über den Gruppensieg geben.
BZ: Auf dem Weg durch ein Turnier kommt Führungskräften eine besondere Bedeutung zu. Nach der WM in Brasilien waren drei solche plötzlich weg: Philipp Lahm, Miroslav Klose und Per Mertesacker. Unter anderem Sie standen plötzlich in der Verantwortung. War es schwierig, damit umzugehen?
Khedira: Da hat sich schon etwas verändert. Die Drei haben unheimlich gefehlt. Spieler wie Manuel Neuer, Thomas Müller, Jérôme Boteng und ich hatten zwar vorher schon Verantwortung. Aber der Chef zu sein, ist etwas anderes als dem Chef zu sagen: Du musst es so oder so machen. Wir als neuer Kopf der Mannschaft mussten uns zunächst auch untereinander finden. Das war nicht so einfach.
BZ: Haben Sie das Gefühl, wichtiger geworden zu sein?
Khedira: Ich spreche da lieber von unserem Mannschaftsrat mit Bastian Schweinsteiger, Manuel Neuer, Thomas Müller, Jérôme Boateng, Toni Kroos, Mats Hummels und mir. Der ist inzwischen sehr gefestigt. Ich denke auch, dass Joachim Löw sehr dankbar ist, wenn wir ihm unsere Meinung mitteilen.
BZ: Wenn es mal nicht läuft.
Khedira: Nicht nur dann. Wenn man nur reagiert, dann köchelt meistens schon irgendwo etwas. Ich bin ein Freund davon, gewisse Dinge gar nicht erst aufkommen zu lassen und früh dagegen vorzugehen. Das kann und darf jeder bei uns. Da ist kein Neidfaktor vorhanden.
BZ: War das früher anders?
Khedira: Zum Teil. Als ich zur Nationalmannschaft kam, war Michael Ballack noch der Chef. Da gab es eine klare Hierarchie: Oben der Chef, darunter zwei andere Spieler, dann nochmal drei und dann der Rest. Das hat sich komplett aufgelöst. Da ist ein Prozess abgelaufen. Ich habe das bei der U 21 unter Horst Hrubesch kennengelernt. Ich war der Kapitän, aber unheimlich dankbar, Jérôme Boateng, Benedikt Höwedes und Andreas Beck an der Seite zu haben. Ich hätte allein nicht gewusst, wie ich das schaffen soll. Wenn fünf vor einem stehen, ist der Einzelne eher mal ruhig. Verantwortung zu übergeben, ist unheimlich wichtig.
BZ: Früher sprach man immer davon, einzelne Spieler seien der verlängerte Arm des Trainers. Braucht es heute nicht sogar elf verlängerte Arme, um konkurrenzfähig zu sein?
Khedira: Jein. Sind es zu viele, wird es auch schwierig. Aber bei uns in der Nationalelf, bei Bayern München, bei Juventus Turin und Real Madrid hat nicht nur derjenige, der die Kapitänsbinde trägt, das Sagen, sondern einige Spieler. Und kein Trainer wird sich dagegen wehren. Genau wie wir von Top-Trainern lernen können, können sie auch von uns etwas mitnehmen. So ein gegenseitiger Austausch kann beide Seiten besser machen.
BZ: Wie funktioniert das mit Löw?
Khedira: Der Austausch mit ihm ist sehr, sehr offen. Wir ergänzen uns ideal. Jeder weiß, dass Joachim Löw der Chef ist. Wenn er eine Entscheidung trifft, wird sie akzeptiert und nicht rumgeheult. Gleichzeitig rennt er nicht stur durch die Wand und sagt: Ich will das so machen. Er hört auf das Gefühl der Spieler.
BZ: Manuel Neuer hat gegen die Ukraine Bastian Schweinsteiger als Kapitän vertreten. Sie haben zuletzt auch mal die Binde getragen. Was unterscheidet Sie von Schweinsteiger?
Khedira: Das Thema Kapitän nervt mich ein bisschen. Darüber will ich eigentlich nicht sprechen.
BZ: Wieso?
Khedira: Basti ist unser Kapitän – unabhängig, ob er auf dem Platz steht oder nicht: Das wird so bleiben. Wir anderen stehen ihm zur Seite, begegnen ihm auf Augenhöhe, diskutieren offen und ehrlich. Ob das der Manuel Neuer ist, der Thomas Müller, der Jérôme Boateng, Mats Hummels oder ich. Wir haben einen sehr guten Draht zueinander. Jeder interpretiert seine Führungsrolle anders. Ich bin ein komplett anderer Typ als Basti oder Jérôme. Aber wir ergänzen uns. Egal, wer Kapitän ist: Es ändert sich nichts. Jeder hat das Recht, etwas zu sagen, und alle anderen stehen ihm zur Seite. Wir sprechen eine Sprache. Das ist das A und O.
BZ: Wie gehen Sie als Führungsspieler mit den jungen Akteuren um?
Khedira: Wir tauschen uns aus. Für die jungen Spieler ist es nicht einfach. Joshua Kimmich beispielsweise hat in der Vorsaison noch mit meinem Bruder bei RB Leipzig in Liga zwei gespielt. Im vergangenen halben Jahr ist er dann durch die Decke geschossen. Damit muss er erstmal umgehen können. Ich frage ihn aber auch gewisse Dinge: Wie war es mit Pep Guardiola bei den Bayern zum Beispiel? Dabei geht es nicht darum, ob ich Führungsspieler bin oder nicht. Mich interessiert das einfach.
BZ: Über Guardiola wird gesagt, er sei ein Taktikfetischist. Auch in Italien wird das Thema Taktik großgeschrieben. Verstehen Sie gewisse Dinge durch ihre Zeit bei Juventus inzwischen besser als zuvor?
Khedira: Die Mentalität in Italien ist sehr taktikgeprägt. Es kommt aber immer auf den Trainer an. Ich habe da in Massimiliano Allegri einen Top-Trainer erwischt. Vor meiner Zeit bei Juventus konnte ich mit einem 3-5-2-System relativ wenig anfangen, mittlerweile träume ich schon davon.
BZ: Warum konnten Sie nichts damit anfangen?
Khedira: Weil ich es nicht gespielt habe – weder unter José Mourinho bei Real Madrid noch davor beim VfB Stuttgart. Ich kannte nur die Viererkette. Jetzt habe ich auch die andere Variante komplett verinnerlicht. Das ist für mich ein großer Vorteil.
BZ: Welches System ziehen Sie vor?
Khedira: Man sollte es nicht allein am Gegner festmachen. Und man muss sehen, welche Spieler einem zur Verfügung stehen. Manchmal merkt man im Spiel: Hoppla, es greift nicht richtig. In der Lage zu sein, dann zu reagieren, ist ein großer Vorteil. Kleinigkeiten können Großes bewirken. Wenn sich der Gegner umstellen muss, kann das der Schlüssel zum Erfolg sein.
BZ: Wenn Sie auf dem Platz spüren, eine Veränderung ist notwendig, nehmen Sie dann gleich Kontakt zum Bundestrainer auf?
Khedira: Das muss nicht sein. Manchmal passieren Dinge auch instinktiv direkt auf dem Platz. Nehmen wir das 7:1 im WM-Halbfinale gegen Brasilien. Unser Plan war sicher nicht, ganz vorne zu pressen. Aber irgendwann haben wir gemerkt, dass die Brasilianer schwimmen und nicht in der Lage sind, sicher hinten rauszuspielen. Dann haben wir unser Verhalten geändert, sind vorne draufgegangen. Irgendwann habe ich Thomas Müller angeschaut und der hat geschrien: Bleib vorne, bleib vorne! Ich habe dann ja fast Stürmer gespielt. Das bedeutet nicht, dass wir den Trainer übergehen. Wir hören einfach auf unser Gespür. So sollte es auch sein. Das ist Eigenverantwortung.
BZ: Machen Sie sich Gedanken, welche Spieler für welche Position geeignet sind?
Khedira: Wir sehen ja im Training, welche Konstellationen entstehen. Und natürlich mache ich mir da Gedanken und teile dem Trainer meine persönlichen Eindrücke auch mit. Im Endeffekt entscheidet aber natürlich er.
BZ: Apropos Eindrücke. Zwischen WM und EM hatte die Mannschaft oft keinen guten Eindruck hinterlassen. Hat der Titelgewinn in gewisser Weise satt gemacht?
Khedira: Nach der WM hat man schon gespürt: Wir haben etwas erreicht. Und dann kommt die Qualifikation mit Irland und Schottland. Pflichtaufgaben eben, die immer schwer zu bewältigen sind. Da sich diesmal drei Mannschaften qualifizieren konnten, war da schon dieses Gefühl: Man schafft es ohnehin irgendwie. Dazu kommen die Herausforderungen im Verein, die Champions League. Wenn man wieder ein ganz konkretes Ziel wie die EM vor Augen hat, wird es einfacher. Fünf Wochen, auf die man sich voll fokussieren kann. Keiner von uns war schon Europameister. Das wollen wir erreichen. Die Lust und die Gier sind da.
BZ: Wie fühlen Sie sich körperlich? Sie waren häufig von Verletzungen geplagt.
Khedira: Ich bin auf einem anderen Level als damals. Seinerzeit bin ich mit einer schweren Verletzung ins Turnier gegangen, jetzt bin ich fast fit. Nach dem Kreuzband- und Innenbandriss war es 2014 ein Kampf gegen die Zeit. Diesmal konnte ich die Saison bei Juventus nahezu durchspielen, habe meinen Rhythmus gefunden, weil ich so viele Partien bestritten habe wie die zwei Jahre zuvor zusammen.
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