Selbstverletzung
Ritzen kann zur Sucht werden – Hilfsprogramm in Freiburg
"Die Klinge ist meine beste Freundin": Es gibt immer mehr Jugendliche, die sich die Haut aufritzen, bis Blut fließt. In Freiburg wird für sie ein spezielles Hilfsprogramm angeboten.
Mo, 24. Mär 2014, 12:28 Uhr
Gesundheit & Ernährung
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"Die Klinge ist meine beste Freundin", bekennt die 18-jährige Alemina. Mit Dreizehn habe es bei ihr angefangen. "Jetzt komme ich mit nichts mehr zurecht. Ich habe alle Freunde verloren."
Maxine (15 Jahre)
Immer mehr jedenfalls suchen Hilfe in der Ambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Sie dürften über das Stadium des Ausprobierens hinaus sein. Was steckt dahinter, wenn junge Menschen darauf aus sind, sich vorsätzlich selbst Schaden zuzufügen – nicht nur indem sie sich brennen oder vom Hals bis zu den Füßen immer tiefer ritzen, bis sogar der Chirurg die Wunden wieder nähen muss. Manche verhalten sich im Straßenverkehr hochriskant, andere schlagen mit dem Kopf oder dem Arm gegen Wände, bis die Knochen brechen. Das Absurdeste, was Fleischhaker erlebt hat, war ein Mädchen, das sich einen hochaggressiven WC-Reiniger in die Haut gespritzt hat.
Selbstverletzendes Verhalten (SVV) ist eines von vielen Kriterien zur Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Von der schweren psychischen Erkrankung Betroffene fallen auch durch andere Dinge auf: durch ein extrem labiles Gefühlsleben zum Beispiel und unkontrollierbares impulsives Verhalten.
Aber nicht alle ritzenden Jugendlichen gehören für den Freiburger Psychiater und Psychotherapeuten pauschal in die Borderline-Schublade. "Bei selbstverletzendem Verhalten handelt es sich nicht um eine Diagnose", gibt Fleischhaker sich zurückhaltend, "sondern um Handlungen, die im Zusammenhang mit verschiedenen komplexen Störungsbildern im Rahmen unterschiedlicher Erkrankungen ausgeführt werden." Ihr gemeinsamer Nenner: Für die Betroffenen ist das SVV die einzige Möglichkeit, heftige Emotionen zu regulieren.
Wie ein Luftballon kurz vorm Platzen fühlt sich ein Mädchen. Das Ritzen ist für sie, als würde sie ein Ventil öffnen, durch das der Druck entweichen kann. Viel kann zusammenkommen, bis er sich aufgebaut hat: Von Mobbing durch Mitschülerinnen wird berichtet, Angst vor einer Klassenfahrt oder Prüfung, Überforderung, Einsamkeit und Nicht-Dazu-Gehören. Unzufriedenheit mit sich selbst, Traurigkeit und pubertärer Liebeskummer. Eltern, die sich getrennt haben und eine überforderte Mutter, die "oft ausrastet". Traumatische Erlebnisse wie der Tod eines Elternteils oder sexueller Missbrauch können zum Auslöser werden.
Viele haben den Wunsch, ihr Leben zu beenden. Sie haben ein fünffach erhöhtes Suizidrisiko. Aber sie verletzen sich nicht selbst, weil sie sich damit umbringen wollen. Es kann auch der Wunsch nach Zuwendung dahinterstecken. "Wenn das Blut fließt, fühle ich mich besser", sagt die 14-jährige Andrea. "Dann spüre ich, dass ich da bin."
Äußere Einflüsse und eine genetisch bedingte impulsive Grundausstattung gehen beim SVV eine unheilvolle Allianz ein. Eltern brechen in Panik aus, wenn sie es entdecken, und können nicht verstehen, was da vor sich geht.
Die Jugendlichen fühlen keine Schmerzen, wenn sie sich selbst verletzen. Im Gegenteil: Endogene Schmerzmittel, so genannte Endorphine, werden im Gehirn ausgeschüttet und sorgen nicht nur für eine schmerzstillende Wirkung, sondern lassen auch ein Gefühl der Erleichterung oder Beruhigung aufkommen. Etwa zehn Prozent der Jugendlichen, sagt Fleischhaker, können von diesen Endorphinschüben ähnlich abhängig werden wie von Heroin. Aber selbst wenn es doch mal weh tut: Körperlicher Schmerz hilft offenbar, den emotionalen besser zu ertragen.
Therapieplätze sind laut Professor Fleischhaker kostspielig und rar. Ein bis zwei Gruppen für jeweils sechs bis acht junge Menschen zwischen zehn und 18 Jahren bietet die Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik. Das Ritzen allein verschafft ihnen noch keinen Zugang zum medizinischen Versorgungssystem. In einer ausführlichen Diagnose wird festgestellt, ob es mit einer psychiatrischen Grunderkrankung (Depression, Trauma, Borderline) gekoppelt ist. Nur wenn die Jugendlichen selbst es wollen, haben sie eine Chance, dass sie von ihrem selbst zerstörerischen Verhalten wegkommen.
Die Freiburger Kinder- und Jugendpsychiatrie hat dafür vor etwa 15 Jahren ein so genanntes dialektisch-behaviorales Therapieprogramm entwickelt. Es erstreckt sich über sechs Monate, schließt Gruppen- und Einzeltherapie mit ein, und bietet ein persönliches Telefoncoaching an, wenn es wieder mal kritisch wird. An den Gruppensitzungen ist auch jeweils ein Elternteil beteiligt.
Konflikte und eine gestörte Kommunikation in der Familie gehören nicht selten zu den Auslösern für das SVV. Auch viele Eltern selbst haben Schwierigkeiten, ihre Gefühle zu steuern. Das Programm war ursprünglich für junge erwachsene Frauen mit einer Borderline-Störung in der Bronx entwickelt worden, einem wegen seiner desaströsen sozialen Verhältnisse berüchtigten Viertel New Yorks, das durchaus dazu angetan ist, seine Bewohner häufig in emotionale Ausnahmezustände zu versetzen.
"Freiburg ist dagegen eine relativ heile Welt", sagt Fleischhaker. Und auf die wurde das Programm denn auch zugeschnitten. Wegen seiner klaren und pragmatisch zu handhabenden Bausteine greifen auch Jugendhilfeeinrichtungen nach einer entsprechenden Schulung in Teilen gerne darauf zurück.
Andrea (14 Jahre)
Auch Hausaufgaben gehören dazu: Detaillierte vorstrukturierte Wochenprotokolle helfen, sich seiner selbst bewusst zu werden und zu beobachten, an welcher Stelle eine kleine Abweichung von den gewohnten Reflexen gelungen ist. Diese Abweichungen werden in der Gruppe und mit dem teilnehmenden Elternteil zuhause gezielt geübt: Statt Ritzen Sport treiben, wenn der Druck zu groß wird, Tee trinken mit der Freundin, Lieblingslieder auf dem Walkman hören, scharfe Sachen essen. Jede muss selbst herausfinden, was ihr persönlich am besten hilft.
Die bisherigen Auswertungen klingen viel versprechend, auch wenn sie nicht den Kriterien einer wissenschaftlichen Studie genügen. Aber "das Programm ist klinisch hocheffektiv", ist Fleischhaker überzeugt. "75 Prozent der Teilnehmenden ziehen es durch – bei sonst üblichen Abbruchquoten von bis zu 60 Prozent." Sie hören auf, sich selbst zu verletzen, die Borderline-Symptome verschwinden, die Lebensqualität steigt.
Die schwerste Klippe steht den Jugendlichen laut Fleischhaker bevor, wenn sie das Gelernte selbstständig in ihren Alltag integrieren müssen. Was offenbar den meisten gut gelingt: Auch ein Jahr nach Therapieende hätten sich deren Wirkungen weiter verbessert. Eine Teilnehmerin habe anschließend sogar in ihrer Schule eine Arbeitsgemeinschaft angeboten zum Umgang mit Stress und Emotionen. Damit es bei den anderen gar nicht erst so weit kommen sollte wie bei ihr.
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