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Bildung & Schlaf

Revolution im Schulsystem: Gymnasium führt Gleitzeit ein

In einem nordrhein-westfälischen Gymnasium dürfen Oberstufenschüler selbst entscheiden, ob sie eine Stunde länger schlafen – das Experiment ist politisch umstritten.  

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Diese Schüler haben die Wahl – ihr Unterricht funktioniert nach dem Gleitzeit-Modell. Foto: Steve Przybilla
Auf dem Tisch liegt "Der Prozess" von Franz Kafka, am Vormittag steht eine Klausur an. Zoey Spix ist heute früher in die Schule gekommen. Zur ersten Stunde. Um acht Uhr morgens. Die 17-Jährige will mit ihren Freundinnen noch büffeln. Sie hätte auch eine Stunde länger schlafen können: Ihre Schule, das Gymnasium im nordrhein-westfälischen Alsdorf, hat vor einem Jahr die Gleitzeit eingeführt – als erste Schule in Deutschland. Die Oberstufenschüler dürfen selbst entscheiden, ob sie zur ersten Stunde oder erst zur zweiten Stunde erscheinen, ob sie um acht Uhr da sind oder erst um 8.55 Uhr – ein Traum für Morgenmuffel. Wenn die Jugendlichen ihrem eigenen Schlafrhythmus folgen, lernen sie entspannter, gesünder und konzentrierter – das ist zumindest die Hoffnung der Schulleitung.

Das Modell ähnelt der Gleitzeit, wie sie in vielen Unternehmen praktiziert wird: Die Alsdorfer Schüler müssen ein bestimmtes Kontingent an Stunden auf ihrem Zeitkonto haben. Wann sie diese absolvieren, ist ihre Entscheidung. Wer gerne länger schläft, kann die Zeit am Ende des regulären Unterrichts dranhängen oder Freistunden nutzen, die sich tagsüber im Stundenplan auftun. Eine Stechuhr oder eine elektronische Zeiterfassung gibt es nicht: Die Schüler nutzen ein Papierheft, in dem die geleisteten Stunden per Stempel erfasst werden.

Eine kleine Revolution im deutschen Schulsystem

Damit das Modell funktioniert, hat die Schule vor längerer Zeit einige Dinge umgestellt. So gibt es in der ersten Stunde keinen regulären Unterricht mehr, sie ist eine sogenannte Dalton-Stunde: In dieser Zeit ist zwar stets ein Lehrer da, die Schüler arbeiten aber selbstständig, sie können Unterrichtsstoff vor- oder nachbereiten oder Hausaufgaben machen. Das Konzept geht auf die amerikanische Pädagogin Helen Parkhurst zurück, die das selbstbestimmte Lernen Anfang des 20. Jahrhunderts in der Stadt Dalton ausprobierte. Dass eine solche Idee im deutschen Schulsystem umgesetzt wird, gleicht einer kleinen Revolution.

Der Mann, der diese anführt, heißt Wilfried Bock. Der 61-jährige Schulleiter hat Spaß an neuen Projekten. "Wir sind keine komischen Vögel, sondern eine ganz normale Schule", sagt er. Statt viel Geld für Smartboards oder Beamer auszugeben, setzt er auf einfache Veränderungen. Vor 13 Jahren hat die Schule auf selbstständiges Lernen umgestellt. Lernvideos, wie sie an Universitäten üblich sind, drehen die Lehrer für ihre Schüler selbst.

Das Gleitzeit-Projekt begann im Februar 2016. Es sei ein voller Erfolg, berichtet der Schulleiter. 80 Prozent der Oberstufenschüler kämen erst zur zweiten Stunde. "Natürlich haben sie jetzt nicht in jedem Fach eine Eins", sagt Bock. "Aber das Lernen ist entspannter. Die Schüler kommen ausgeschlafen in den Unterricht." Das gelte auch für die Lehrer. Bevor er die Gleitzeit einführte, fuhr Bock mit zahlreichen Kollegen nach Amsterdam, wo das Modell schon länger praktiziert wird. "Mir war es wichtig, dass alle an Bord sind", sagt Bock. "Solche Veränderungen kann man nicht gegen Widerstand im Kollegium durchziehen."

Die Gleitzeit stellt mehr dar als ein Kuschelprogramm für verwöhnte Kinder. Seit Jahren plädieren Wissenschaftler für einen späteren Schulstart, gerade für Oberstufenschüler. Wenn Jugendliche in die Pubertät kommen, schütten sie das Schlafhormon Melatonin später aus als ihre jüngeren Mitschüler. Je älter sie werden, desto später beginnt ihre Tiefschlafphase. Der Chronobiologe Till Roenneberg von der Universität München beschäftigt sich seit Langem mit diesem Phänomen – und hat das Gymnasium Alsdorf in seine Forschung aufgenommen.

Viele Schüler nehmen das Angebot wahr

Mehr als hundert Schüler wurden mit Hilfe spezieller Uhren und Schlaf-Tagebücher vor und nach Einführung der Gleitzeit auf ihre Schlafphasen hin untersucht. Während die Schulleitung in Alsdorf bereits erste positive Schlüsse zieht, gibt sich Roenneberg zurückhaltender. Die Messungen würden noch ausgewertet, heißt es aus dem Institut, mit Ergebnissen sei frühestens im März zu rechnen.

Die Schüler in Alsdorf gehen ganz unterschiedlich mit ihrer neu gewonnen Freiheit um. "Ich finde die Gleitzeit gut", sagt Zoey Spix in einer Kafka-Lernpause. "Man bekommt nicht gleich die volle Dröhnung am Morgen." Meist komme sie zwei Mal pro Woche später. "Manchmal klingelt mein Wecker auch schon früher und ich bleibe einfach noch eine halbe Stunde liegen. Diese Freiheit ist echt was wert." Eine Stunde länger schlafen kann sie trotzdem nicht: "Der Bus kommt nur alle halbe Stunde. Deshalb kann ich die Zeit nicht ganz ausnutzen."

Ihr Mitschüler Robin Wiemer hat dieses Problem nicht. "Ich gehe immer zu Fuß, weil ich direkt um die Ecke wohne", sagt der 16-Jährige. Wann immer es möglich ist, versucht er zur zweiten Stunde zu kommen. Organisatorisch sei das nicht kompliziert, beteuert er. "Ich schaue jeden Tag in meinen Planer, wie viele Stunden ich benötige. Nach zwei, drei Wochen hat man das raus." Auch Thanh Dat Pham (17) findet die Gleitzeit gut: Er nutzt die Dalton-Stunde, um für eine Philosophie-Klausur zu lernen. "Früher saß man in den Freistunden nur sinnlos herum", sagt der Schüler. "Heute kann man in der Zeit etwas Sinnvolles machen." Wobei er auch Freunde habe, deren Uhr genau andersherum ticke: "Das sind Frühaufsteher, die gerne schon um acht Uhr in der Schule aufschlagen."

Doch wenn alles so gut läuft, warum haben nicht längst andere Schulen das Gleitzeit-Modell übernommen? Immerhin zeigt sich Nordrhein-Westfalens Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) offen für Experimente. Bei einem Besuch in Alsdorf lobte sie das Gymnasium als "Vorreiter für flexibles Lernen". Auf Nachfrage reagiert das Schulministerium verhalten: Der Unterricht im Land beginne grundsätzlich zwischen 7.30 Uhr und 8.30 Uhr. "Diese Regelung lässt den Schulen und Schulträgern bereits einen Gestaltungsspielraum, um vor Ort den Unterrichtsbeginn festzulegen", heißt es. Eine flächendeckende Einführung der Gleitzeit sei nicht geplant, da auch die Arbeitszeiten der Eltern berücksichtigt werden müssten.

Die Lehrergewerkschaft GEW kann sich mit der Idee nicht so recht anfreunden

Weit kritischer äußert sich die Opposition im Landtag. "Die Individualisierung der Lernzeit reduziert Schule zu einem Ort, an dem […] jeder Schüler für sich mit dem Lernstoff beschäftigt ist", sagt CDU-Bildungssprecherin Petra Vogt. "Das ist aus pädagogischen Gründen nicht sinnvoll." Die FDP zeigt sich aufgeschlossen gegenüber "finanzieller und pädagogischer Autonomie", betont aber auch: "Das Alsdorfer Gleitzeitunterricht-Modell kann als Beispiel dienen, ist aber aufgrund der speziellen Schulorganisation nicht ohne Weiteres übertragbar."

Auch die Lehrergewerkschaft GEW kann sich mit der Idee nicht so recht anfreunden. Zum einen kollidiere sie gerade bei jüngeren Schülern mit der Situation der Eltern. Zum anderen müssten junge Menschen in der Lehre ebenfalls mit frühen Arbeitszeiten klarkommen. Der nordrhein-westfälische Philologen-Verband, in dem sich Gymnasiallehrer organisieren, sieht es ähnlich. "Ich würde große Zurückhaltung üben, wenn das Modell auf andere Schulen übertragen werden soll", warnt Peter Silbernagel, der Vorsitzende. Der Aufwand sei je nach Größe der Schule unverhältnismäßig hoch, zumal man erst das Ergebnis der wissenschaftlichen Untersuchung abwarten müsse. "Auch im späteren Berufsleben gibt es ein Korsett, an das sich die Menschen anpassen müssen", so Silbernagel.

"Man ändert eher die zehn Gebote als einen Busfahrplan" Schulleiter Bock

Auch Schulleiter Bock räumt ein, dass nicht alles perfekt läuft. In Sachen Nahverkehr zum Beispiel – Busse und Bahnen fahren zur zweiten Stunde nicht mehr so oft. "Man ändert eher die zehn Gebote als einen Busfahrplan", sagt er. Trotzdem glaubt er an den Erfolg der Gleitzeit: "Das ist nur eine Frage des Willens."

Bei aller Skepsis kann sich der Schulleiter in seiner Arbeit bestätigt fühlen: Das Gymnasium wurde für seine innovative Pädagogik bereits 2013 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet. Jedes Jahr strömen mehr als 600 Besucher nach Alsdorf, um sich das Konzept aus der Nähe anzuschauen – und das, obwohl die Schule wegen mangelnder Schülerzahlen schon einmal kurz vor der Schließung stand. Die Dalton-Stunden und die Gleitzeit haben den Trend umgekehrt, da ist sich Bock sicher. "Eine Schule funktioniert im Grunde wie ein Unternehmen", sagt der Schulleiter. "Man muss das anbieten, was die Leute wollen."

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Ressort: Deutschland

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