Baden-Württemberg
Warum Leute dafür bezahlen, Hochdeutsch zu lernen
Ariane Willikonsky bringt in ihrem Fon Institut Leuten das dialektfreie Sprechen bei. Was ist der Unterschied zwischen Bruddlern und Quäkern und warum wollen Menschen Hochdeutsch lernen?
Christine Luz
Sa, 4. Jun 2016, 0:00 Uhr
Panorama
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Dorothee Schneider hat ein Problem. Sie will ohne Dialekt sprechen. Endlich. Nicht leicht in einem Bundesland, wo Breschdlengsgsälz aufs Weggle kommt, Gscheidle und Driebl leben, und die Menschen angeblich alles können – außer Hochdeutsch. Deshalb hat sie sich Hilfe gesucht. Ihr gegenüber sitzt eine blonde Frau, weißes Shirt, einen blauen Schal um den Hals gewickelt. In einer Tasse auf dem Tisch dampft frisch aufgebrühter Früchtetee.
Ariane Willikonsky, 49 Jahre alt, entschuldigt sich, sie sei heute erkältet. Mit belegter Stimme klingt sie allerdings immer noch besser als manch routinierter Redner. Sie ist Sprachtrainerin und sehr gefragt. Schauspieler bereitet sie auf Auftritte vor, Topmanager heilt sie vom Nuscheln, und selbst Ministerpräsident Winfried Kretschmann trainiert bei ihr seine Stimmbänder. Und dann gibt es noch die Baden-Württemberger, Schwaben und Badener, die endlich "dialektfrei Deutsch sprechen" wollen. So heißt der Kurs, der Dorothee Schneider an diesem Abend ins Fon Institut nach Bad Cannstatt geführt hat.
Mit Sätzen wie "Sen Sie der, der gerschd scho agrufa hodd?" soll Schluss sein. Ebenso mit eigenwilligen Uhrzeitangaben. "Wir treffen uns um viertel drei, das versteht in Hamburg kein Mensch", sagt Ariane Willikonsky. Sie weiß, nicht nur Wortschatz und Grammatik trennen den Schwaben vom Hochdeutsch, sondern vor allem der Klang. Was in ihrem Institut passiert, klingt mitunter nach medizinischen Notfällen. Da wird "plastisch artikuliert" und "vokalisiert", da sollte ein E mal "abspannen" und das R "nicht hinten wegrutschen". "Hochdeutsch kann jeder lernen, sogar ratzfatz", verspricht sie. In nur zehn Kursstunden kuriert sie unerwünschte Mundartauswüchse.
und jetzt: "einsch, zschwei, drei..."
Für Dorothee Schneider kommt der Abend einem Rollenwechsel gleich. Sonst ist sie es, die anderen Ratschläge erteilt. Sie ist 48 Jahre alt, die braunen Haare trägt sie modisch auf Kinnlänge geschnitten. Zur schwarzen Jeans hat sie eine leuchtend rote Weste kombiniert. Sie weiß, wie man sich präsentiert. In ihrer Praxis bietet sie Einzelcoaching zur Persönlichkeitsentwicklung an. Außerdem hält sie Vorträge in Deutschland, der Schweiz und Österreich und leitet Seminare für Führungskräfte. Mit dem Hochdeutsch-Kurs will sie sicherstellen, dass ihre Inhalte bei den Leuten ankommen.
Fast immer sind es berufliche Gründe, die jemanden zu Ariane Willikonsky führen. Der Manager, der seine Firma auf einmal überregional präsentieren soll, der Angestellte, der besser von seinen Kunden verstanden werden will, die Lehrerin, die wegen ihres Dialekts belächelt wird. Menschen, die Angst haben inkompetent zu wirken, weil sie schwäbeln. Manchmal sind es auch die Firmen, die ihre Führungselite zu Ariane Willikonsky schicken. Mitunter stehen dann Männer vor ihr, die sich wundern, was sie hier sollen. Wo doch dia andere emmer vrschdanda, wass se gsaid hen.
Sie bietet auch Gruppenkurse an, die meisten aber nehmen lieber Einzelstunden. Die Diplom-Sprecherzieherin nennt das ein Problem ihres Jobs. Keiner brüstet sich gerne damit, ihre Hilfe zu brauchen. 2003 hat sie ihr Fon-Institut gegründet, inzwischen hat sie mehrere Filialen und knapp 50 Mitarbeiter. Die Hochdeutschkurse machen zwar nur einen Teil ihres Angebots aus, aber sie sind hoch begehrt. Manchen gilt ihre Aussprache als Karrierekiller.
Schwäbisch, das zeigen Statistiken immer wieder, gehört zu den unbeliebtesten Dialekten. Der einzige Trost der Schwaben sind die Sachsen, die noch schlechter abschneiden. Allerdings sagt Ariane Willikonsky einen Satz, den keiner ihrer Klienten gerne hört: "Schwäbisch und Sächsisch sind sich sehr ähnlich." In beiden Dialekten werden die Töne weit hinten in der Kehle gebildet. Das klingt häufig nuschlig und wirkt schnell unfreundlich. Ihnen fehlt das, was die Sprachtrainerin den "Brustton der Überzeugung" nennt. Ganz im Gegensatz zu den Bayern, die nach vorne sprechen, also Selbstbewusstsein pur ausstrahlen.
Für Ariane Willikonsky hat ein Dialekt auch immer etwas Charakteristisches. Sie nennt als Beispiel die Verniedlichung mit -le. Die Schwaben machen sich gern kleiner, als sie sind. Aus dem Land wird ein Ländle, aus dem Mädchen ein Mädle. Und selbst nach jahrelangem Schaffe-Schaffe bauen sie am Ende nur ein Häusle und kein Haus. Bei Badenern hingegen hört man wie bei den Rheinländern die Herkunft aus einem Weinanbaugebiet. "Die singen mehr", sagt Ariane Willikonsky. Das mache sie empathischer. Sie zusammen mit Schwaben in Hochdeutsch unterrichten? Die Sprachexpertin winkt ab. Fast unmöglich. Was die Aussprache betrifft, trennt Baden und Württemberg ein tiefer Graben.
Dorothee Schneider ist Mittelbadenerin und hat die Kluft überwunden. Sie lebt unter vielen Schwaben im Kreis Calw – der liegt zwar im Regierungsbezirk Karlsruhe, gehörte aber früher überwiegend zu Altwürttemberg. Mit dem Singsang in ihrer Sprache möchte sie brechen. Sie ist auf einem guten Weg. Neun von zehn Kursstunden hat sie bereits absolviert. Allerdings sitzt sie zum ersten Mal einem Sprachtrainer direkt gegenüber. Normalerweise muss sie ihr Haus nicht verlassen, wenn sie über Susis Zitroneneis oder Frau Schlaus Lauchauflauf spricht. Sie greift zur verabredeten Zeit einfach zum Telefon. "Das ist immer mein Höhepunkt der Woche", sagt sie. Hochdeutsch lernen via Telefon, das geht? Zumindest ist die Wahlschwäbin keine Ausnahme. Viele Schüler skypen auch mit ihren Trainern, und selbst in Moskau bekommt man Sprachtraining aus Bad Cannstatt.
Am liebsten hätte Dorothee Schneider jede Woche Unterricht genommen. "Aber ich wurde ausgebremst." Das Hochdeutsch soll sich im Alltag verfestigen. Die Sprache ist wie ein Muskel, der regelmäßig trainiert werden muss. Die Schüler üben, wenn sie beim Bäcker Brötchen bestellen oder einen Anruf entgegennehmen. Es geht darum, ein Ritual zu finden, das sich leicht in den Tag integrieren lässt.
Die nächste Übung hat Dorothee Schneider schon am Telefon geprobt. Damals konnte der zugeteilte Lehrer nur auf ihre Aussprache achten. Jetzt schaut Sprachexpertin Willikonsky ihr zusätzlich auf die Finger. Genauer: auf den Daumen. Den muss die Schülerin nämlich quer zwischen die Zähne stecken. Sie ist aufgestanden, Mund auf, Daumen rein, und zählt: "Einsch, zschwei, drei …" – "Nicht draufbeißen", mahnt die Dozentin. Die Übung funktioniert wie das Sprechen mit dem berühmten Korken im Mund. Nur dass bei dieser Variante das Kiefergelenk locker bleibt. "Das hilft auch gegen Bruddeln."
In Schwaben gibt es zwei besondere Spezies, die Ariane Willikonsky den Bruddler und den Quäker nennt. Letzteres trifft meistens Frauen, die sich mit hoher Stimme gerne lautstark unterhalten. Am liebsten über den Nachbarzaun hinweg, um den neuesten Tratsch auszutauschen. "Du, hosch scho kherd …" Der Bruddler dagegen bekommt seinen Mund kaum auf und wenn, dann so behäbig, dass ihn Raigschmeggde kaum verstehen.
Diesen Typus kennt Ariane Willikonsky genau. Sie hat einen geheiratet, Oliver Willikonsky. "Bei ihm scheitern alle Therapieversuche", sagt sie resigniert. Dabei hat sie längst die Vorzüge der schwäbischen Bruddligkeit schätzen gelernt. Sie erzählt, wie die Tochter ein neues Handy wollte. Der Vater ist einer, der mit so einem Glomb (Hochdeutsch: Gelumpe) erst mal nichts anfangen kann. Dann las er doch stundenlang Empfehlungen im Netz und kaufte schließlich eines. "Er bruddelt, aber macht es."
Ihre Schüler sind zum Glück weniger lernresistent und flüchten auch nicht, wenn’s mal "brenzlig" wird. Dorothee Schneider soll das Gedicht "Das Feuer" von James Krüss vorlesen. Ein Vorzug des Hochdeutschen kommt hier besonders zum Tragen: Es transportiert gut Inhalte. Ariane Willikonsky spricht vor: "Hörst du, wie die Flammen flüstern, knicken, knacken, krachen, knistern (…)?" Tatsächlich, während sie die Worte spricht knackt, kracht und knistert es in jeder Silbe. Ein lautmalerisches Freudenfeuer.
Ihre klare, sonore Stimme ist eigentlich ein kleines Wunder. Denn die Sprachtrainerin ist selbst in Schwaben geboren, in Hechingen auf der Alb. Dort wird mitunter ein Schwäbisch gschwätzt, das selbst Ur-Stuttgarter mit einem "Hä?" quittieren. Ariane Willikonskys Eltern stammen ursprünglich aus Hamburg, und wahrscheinlich hat sie es ihnen zu verdanken, dass sie quasi zweisprachig aufwuchs. Hat ihr die Herkunft das Schwäbisch so vergällt, dass sie es am liebsten ausmerzen will? Im Gegenteil.
Manchmal übt sie mit Akteuren deren Rollen ein. Nachsprechen geht, spontan anwenden kaum. Weil der Dialekt keinen festen Regeln folgt, wird er Zugezogenen wohl immer verwehrt bleiben.
In manchen Situationen trifft nur Schwäbisch die richtige Nuance, wie Ariane Willikonsky an einem Beispiel belegt. Sie war mit einer Freundin im Schwimmbad verabredet und wartete schon eine Weile. Schließlich rief sie an: "Wo bisch, was machsch, wann kommsch?" Hochdeutsch klingt sachlicher, das schafft Distanz. "Hätte ich stattdessen gefragt, wo bist du, hätte sie gedacht, ich bin sauer."
In Bad Cannstatt ist es inzwischen dunkel geworden. Draußen tönen Glocken. Die Expertin fürs gesprochene Wort zieht ein Fazit: "Da bleibt nicht mehr viel zu tun." Dorothee Schneider bedankt sich für die Stunde. Sie ist ihrem Ziel, Hochdeutsch zu sprechen, wieder ein Stück näher gekommen.
Mit Familie und Freunden wird sie weiterhin gerne Badisch babble. Das ist für sie auch ein Stück Identität. "Eigentlich mag man seinen Dialekt nach einem Kurs noch mehr", sagt Ariane Willikonsky. "Ich kann Hochdeutsch lernen, aber das heißt nicht, dass ich kein stolzer Schwabe bin."
- Gute Frage: Wer legt fest, was Hochdeutsch ist?
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