"Ob das wirklich in Allahs Sinne ist?"
Das Gedankengut der Salafisten ist für viele in Deutschland aufgewachsene Jugendliche reizvoll – eine Syrerin bremst die Eiferer aus, indem sie Fragen stellt.
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Die 32-jährige Syrerin – klein, blass, mit markantem Profil – kniet auf dem Orientteppich im Frauengebetsraum der Ibrahim Al-Khalil-Moschee. Vor sich hat sie ihr Notebook aufgeklappt. Aufmerksam liest sie die neuen Einträge auf ihrer Facebook-Seite, ihrem Sensor für radikales Gedankengut. An die 1000 "Freunde" hat sie gesammelt, alles junge Muslime aus dem Großraum Osnabrück, die ihre Meinungen posten und Dua mit Fragen überhäufen. Zu den brennendsten Fragen organisiert sie Podiumsdiskussionen der Muslimischen Jugendcommunity Osnabrück, deren Gründerin sie ist. Zu einer der Veranstaltungen erschien auch Hakan Bokül. Am Ende, als fast keiner mehr da war, trat er auf Dua zu, verunsichert, redebedürftig. "Ich merkte sofort, dass etwas faul war", erinnert sie sich.
Dua Zeitun bewahrte den jungen Mann vor den Salafisten. Auf ihrer Suche nach Antworten landen viele Jugendliche bei Pierre Vogel oder anderen radikalen Predigern, die ihre Botschaften im Internet verbreiten. Es sind einfache Erklärungen, die sie den Jugendlichen geben. Sie bieten ihnen Identifikationskonzepte – allerdings auf der Basis eines Islamverständnisses, das den Grundwerten der Demokratie widerspricht. Laut Bundesverfassungsschutz ist die Zahl der Salafisten in Deutschland innerhalb eines Jahres von rund 3800 auf 4500 gestiegen – Sympathisanten nicht mitgerechnet. Darunter seien auch Jugendliche, die es nach Syrien in den "Heiligen Krieg" zieht. Der Verfassungsschutz weiß von etwa 170 Menschen, die schon nach Syrien ausgereist sind.
Warum der Zulauf zu den Salafisten in einem nichtislamischen Land wie Deutschland so hoch ist, liegt am Bedürfnis vieler muslimischer Jugendliche nach Religiosität. "Als Minderheit in einem Einwanderungsland stiftet sie Identität und ein Gefühl von Zugehörigkeit", stellt das Zentrum Demokratische Kultur fest. "Und das Bekenntnis zur Religion wächst, je stärker diese von der Gesellschaft in Frage gestellt wird", heißt es in einer aktuellen Publikation der gemeinnützigen Gesellschaft, die sich mit Extremismusphänomenen auseinandersetzt.
Gleichzeitig mangelt es an deutschsprachigen Imamen, die mit diesen Jugendlichen auf Augenhöhe kommunizieren können. Das beobachtet der Osnabrücker Islamwissenschaftler Rauf Ceylan, der im Rahmen einer Studie mit 250 von insgesamt 2000 Imamen in Deutschland gesprochen hat. "Die meisten sind selbst nicht in der deutschen Gesellschaft angekommen", sagt Ceylan. Viele seien türkische Staatsbeamte, die nach vier Jahren wieder zurück in ihre Heimat kehrten. "Ihre Predigten gehen an der Lebenswirklichkeit der Muslime in Deutschland völlig vorbei." Zwar werden in wenigen Jahren die ersten in Deutschland ausgebildeten Imame ihre Arbeit beginnen – vor zwei Jahren haben die ersten Universitäten das Fach "Islamische Theologie" eingeführt. Aber noch ist unklar, wer die neue Imam-Generation bezahlen wird.
Dua Zeitun teilt mit vielen Jugendlichen die Erfahrung, sich ausgegrenzt zu fühlen. Sie wuchs in einem Kurort in der Nähe von Osnabrück auf, wo weite Bogen um Mädchen mit Kopftüchern gemacht wurden. Ihr, der Tochter eines syrischen Imams, die fünf Mal am Tag betet und zwischendurch auf Facebook auch mal Witze über gescheiterte Diäten macht, vertrauen sich die jungen Muslime an. Fragen wie "Verbietet es der Koran, dass ich vor der Ehe einen Freund habe?" gehören zu ihrem Gebiet. "Alle scharen sich um Dua", sagt Liliya, eine Studentin aus Russland. "Allen gibt sie Rat."
Dabei versucht Dua, zwischen Christentum und Islam zu vermitteln. Ihr Vater Abdul-Jalil Zeitun gehört zu den wenigen Imamen, die Kontakte zu Kirche und Politik pflegen. Seine Tochter schickte er in einen katholischen Kindergarten. Heute ist Dua für das Bistum Osnabrück die Projektverantwortliche für den interreligiösen Dialog. Sie kann über Jesu Rolle im Islam genauso diskutieren wie über die Frage, ob Unverheiratete sich die Augenbrauen zupfen dürfen. Die heißesten Debatten führt sie mit ihren eigenen Kindern, die allmählich in die Pubertät kommen. Empfindlich reagiert sie auf die Wortwahl der Medien, wenn es um den Islam geht. Als der Berliner Tagesspiegel Walter Steinmeiers neue Sprecherin Sawsan Chebli als "strenggläubig" bezeichnete, weil diese angab, keinen Alkohol zu trinken und kein Schweinefleisch zu essen, fragte sich Dua verärgert: "Was bin ich denn dann? Radikal?"
Sie macht keinen Hehl daraus, mit ähnlichen Mitteln wie Pierre Vogel um die Gunst der Jugendlichen zu buhlen. Auch sie beherrscht den Jugendslang, findet Dinge "krass" oder "cool", wenn sie junge Leute auf der Straße anquatscht und zu ihren Veranstaltungen einlädt. Und sie beherrscht die ganze Klaviatur der sozialen Netzwerke, über die sie potenzielle "Freunde" gezielt "stalked", wie sie sagt. Ihre Zielgruppe seien junge Muslime, die nach Spiritualität suchen und salafistische Webseiten konsultieren. Die auf einmal Symbole aus Säbel und Koran posten, auf "Scheiß Deutschland" schimpfen oder andere Muslime als Ungläubige, als "Kuffar" bezeichnen. So sind unter ihren "Freunden" viele, die auch Pierre Vogel als "Freund" haben und seine Videobotschaften mit "Gefällt mir" posten.
Der Salafisten-Popstar, der mit seiner Mischung aus rheinischem Singsang und fließendem Hocharabisch viele Muslime beeindruckt, ist Duas Rivale, auch wenn sie sich nicht feindselig gibt. Als drei Mädchen aus ihrer Gemeinde nach Münster fuhren, um den Prediger live zu erleben, ging sie einfach mit. "Den find’ ich auch spannend", sagte sie. Während seines Auftritts zeigte sie sich erstaunt über die Selbstinszenierung, die Bodyguards und das protzige Werbebanner. "Ob das wirklich in Allahs Sinne ist?", fragte sie die Mädchen. Eine von ihnen löschte danach Pierre Vogel aus ihrem "Freunde"-Verzeichnis. Immerhin, findet Dua.
Auch Haken Bokül belehrte sie nicht. "Wie geht es dir?", fragte sie unverbindlich über Facebook nach der Veranstaltung. Er schrieb ihr von den Zweifeln an seinen neuen Glaubensbrüdern. Sie ermunterte ihn, den eigenen Kopf zu gebrauchen, bot ihm ein Treffen an. Er erzählte von seinen Eltern, die ihre Religion einfach ignoriert hätten – vielleicht aus Angst vor Diskriminierung. Nirgendwo habe er sich zugehörig gefühlt. Dua fragte ihn, ob er ihr bei der nächsten Veranstaltung beim Aufbau helfen könnte. Später wollte sie seine Meinung hören, was Themen künftiger Veranstaltungen betraf. Sie bat ihn, sie bei der Moderation zu unterstützen. Irgendwann wagte Hakan Bokül den Rückzug aus der Salafistengruppe. "Dann geh doch zu Mama Dua", sagten die Zurückgelassenen abfällig. Seither erhält Dua anonyme E-Mails mit Botschaften wie "Fürchte Gott!".
Ihre stille Form der Prävention steht im Gegensatz zu den kostspieligen und glücklosen Maßnahmen des Bundesinnenministeriums. Die geplante Plakat-Aktion, die einen bärtigen Mann und eine Frau mit Kopftuch zeigt, darunter der Appell, sich ans Innenministerium zu wenden, wenn Bekannte oder Verwandte "immer radikaler" werden, stieß in der muslimischen Welt auf Entsetzen. Der Gebrauch von Stereotypen, der Muslime unter Generalverdacht stellt, zeige, "wie wenig die deutsche Politik von der Gefühlslage der Muslime in Deutschland begriffen hat", sagt Dua.
Auch die Hotline für Aussteiger, die der Verfassungsschutz vor drei Jahren eingerichtet hat, wird nicht so angenommen wie erhofft. "Ein staatliches Programm ist keine Instanz, an die man sich wendet, wenn man diese Gesellschaft vorher abgelehnt hat", kritisierte der Islamwissenschaftler Götz Nordbruch bereits bei der Einführung. Das neue Aussteigerprogramm "Wegweiser", das Nordrhein-Westfalen anbietet, setzt dagegen stärker auf Akteure der muslimischen Gemeinde. Die Experten versprechen sich jedoch nicht viel davon. "Prävention muss viel früher ansetzen", sagt Islamwissenschaftler Rauf Ceylan. "Am besten schon im Vorschulalter."
Ceylan plädiert dafür, dass schon im Kindergarten über den Ramadan gesprochen wird und Moscheen besucht werden. "Wenn Kinder spüren, dass ihre Religion einen Platz in der Gesellschaft hat, sind sie später am besten geschützt vor den Fängen der Salafisten", sagt der Islamwissenschaftler. Für überfällig hält er einen flächendeckenden islamischen Religionsunterricht – eine Forderung aus den siebziger Jahren, die bis heute nicht umgesetzt wurde. Die wirksamste Prävention sei nichts anderes als "echte Integration".
Bis diese in Deutschland gelingt, dürften nach Ansicht des Osnabrücker Islamwissenschaftlers noch Jahrzehnte verstreichen. Bis dahin wird Dua Zeitun "Feuerwehr" spielen. Ihr ist bewusst, dass sie bei ihrer Arbeit professionelle Hilfe braucht. Darum hat sie beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Gelder beantragt. "Ein Psychologe an meiner Seite wäre nicht verkehrt", sagt sie – und zeigt erstmals so etwas wie Furcht. "Ich weiß ja nie genau, mit wem ich es da draußen zu tun habe."
HINTERGRUND
Die Anhänger orientieren sich an den "salaf", den "Vorfahren", die zu Zeiten des Propheten Mohammeds dem Koran wortgetreu gefolgt sein sollen. Äußerlich sind sie an den langen Bärten, weißen Gewändern und Kopfbedeckungen zu erkennen. Nicht alle Salafisten sind gewaltbereit. Theologen unterscheiden zwischen den unpolitischen Puristen, den politischen Salafisten, die den Gottesstaat mit politischen Mitteln errichten wollen, und den dschihadistischen Salafisten, die bereit sind, diesen auch mit Gewalt durchzusetzen.
Der gebürtige Bonner Pierre Vogel, Jahrgang 1978, gilt als einflussreicher Prediger in der Salafistenszene. Bevor er 2001 konvertierte, war er Profiboxer. Nach zwei Jahren Sprachstudium in Mekka begann er 2006 zu predigen. Vor allem Jugendliche auf Sinnsuche hören ihm zu. Vogel hat sich mehrfach gegen Gewalt und Terroranschläge ausgesprochen. Die Sicherheitsbehörden stufen ihn trotzdem als gefährlich ein, weil er mit seinen extremen Ansichten "eine Radikalisierung religiöser Jugendliche befördert".
Fast alle Imame kommen aus dem Ausland. Daher haben vor zwei Jahren die ersten deutschen Universitäten islamische Theologie als Studienfach eingeführt, darunter die Universität Tübingen. Die angehenden Imame sollen dort auch auf seelsorgerische Arbeit vorbereitet werden – ein Bereich, den der Islam ursprünglich nicht vorsieht. Die Zukunft dieser neuen Imam-Generation ist jedoch ungewiss, da nicht feststeht, ob die muslimischen Verbände in Deutschland die Ausbildung anerkennen werden.
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