Körperaktivismus
Mut zur Selbstliebe: Ein paar Speckröllchen mehr, na und?
Melodie Michelberger kämpft für ein diverses Körperbild und gegen den Diätwahn, der vor allem Frauen schadet. Mit ihrem Buch möchte sie anderen dabei helfen, sich zu akzeptieren.
Di, 27. Apr 2021, 13:53 Uhr
Panorama
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Fragt man Melodie Michelberger, wie es zur Obsession mit ihrem Körper kam, erzählt sie eine berührende Geschichte, die auch in ihrem kürzlich erschienenen Buch "Body Politics" nachzulesen ist. Als sie etwa acht Jahre alt war, fand sie in einem Kleidergeschäft einen bunten, bauschigen Rock, den sie unbedingt haben wollte. Ihre Mutter aber sagte zu ihr: "Der trägt doch total auf, (...) dein Hintern ist dafür zu dick." Den Rock bekam sie dann doch, aber sie hatte das unschuldige Gefühl verloren, anziehen zu können, wozu sie Lust hatte. Obwohl sie den Rock liebte, "ging das Gefühl nie weg, dass ich ihn eigentlich gar nicht tragen durfte". Ihre Mutter wollte sie mit ihrer Bemerkung vor negativen Kommentaren schützen, vermutet Melodie Michelberger. Aber das Ereignis führte dazu, dass sie sich ihrem Körper und seiner vermeintlichen Unperfektheit erstmals bewusst wurde. Sie wurde unsicher, hatte den Eindruck, falsch zu sein und abnehmen zu müssen. Lange Jahre begannen, in denen sie nur nach Zahlen lebte: Bauchumfang, Gewicht, Body Mass Index.
"Und das, obwohl ich eine durchschnittliche Figur hatte", sagt Michelberger heute. Wenn sie Bilder von sich als Jugendliche und Mittzwanzigerin anschaut, sieht sie eine recht schlanke Frau. "Dennoch hatte ich immer das Gefühl zu viel, zu dick zu sein." Lange habe sie nicht geahnt, dass wir in einer Gesellschaft lebten, die es als Verpflichtung ansehe, dicke Körper zu kaschieren. "Wir sehen einfach keine Dicken. Das geht in den Kinderbüchern schon los. Oder haben Sie da schon einmal eine dicke Prinzessin entdeckt?"
Brunna Tuschen-Caffier, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Freiburg und auf Essstörungen spezialisiert, ist froh, dass Leute wie Melodie Michelberger Problematiken wie Diätwahn und das vorrangige Abbilden sehr dünner Körper an die Öffentlichkeit bringen. "Denn natürlich hat all das Einfluss auf die Menschen." Untersuchungen hätten erwiesen, dass die Sorge um Figur und Gewicht und das Diäthalten eindeutige Risikofaktoren für Essstörungen seien, hauptsächlich bei Frauen, aber auch bei Männern. "Zwar erkranken relativ wenige Menschen ernsthaft, gemessen daran, wie viele diesem Schönheitsideal nacheifern. Denn bei einer Essstörung spielen immer noch weitere Faktoren eine Rolle. Dennoch zeigen Studien sehr klar, dass Essstörungen in industrialisierten Ländern mit westlichem Schönheitsideal häufiger vorkommen als in anderen Kulturen." Schon junge Schülerinnen eiferten dem dünnen Ideal nach, seien permanent mit Messen und Wiegen beschäftigt. Unnötiger Stress, eine seelische Belastung – auch ohne Essstörung. Tuschen-Caffier: "Das fängt oft schon im präpubertären Alter an."
Wie bei Melodie Michelberger. Heute hat sie es geschafft, dem Diätdruck zu entkommen, und zeigt sich auf Instagram in Unterwäsche so, wie sie ist – wie ihr Körper geworden ist, seit sie ihn nicht mehr züchtigt: rund, weich, groß und mit Fettröllchen. "Mein Ziel war, nach Jahrzehnten von Selbsthass, Mangelernährung und exzessivem Sport, Empathie für mich zu entwickeln und eine wertschätzende Perspektive auf meinen Körper einzunehmen." Sich selbst lieben also, wie es die Body-Positivity-Bewegung proklamiert? "Nein, das ist nicht das, was Body Positivity ursprünglich meint. Dieser Bewegung geht es darum, Räume für marginalisierte, tabuisierte dicke Körper zu eröffnen." Dazu komme der Kampf gegen Diskriminierung und Abwertung. Es gehe also eigentlich um Politik und gesellschaftliche Veränderungen – nicht nur darum, seinen eigenen Körper positiv zu finden. "Durch Social Media ist das alles mittlerweile leider total verwässert worden. Daher benutze ich inzwischen eher den radikaleren Begriff fettpositiv."
Vielen Frauen spricht Michelberger, die aktuell in Hamburg lebt, aus der Seele. Aber es gibt auch die anderen. "Immer wenn über mich berichtet wird, melden sich Menschen, die sagen, dass ich einen ungesunden Lebensstil propagiere", erzählt sie. Es seien die typischen Negativ-Assoziationen, mit denen dicke Menschen zu kämpfen hätten: Sie seien faul, undiszipliniert, ernährten sich falsch. "Vor allem Männer schreiben solche Dinge: Nimm doch einfach ab, mach’ mehr Sport. Ich finde es befremdlich, dass meine Gesundheit – die ja für Fremde eine reine Blickdiagnose ist – anscheinend für viele der Schlüssel dafür ist, ob sie mich überhaupt respektieren können."
Natürlich gibt es ungesundes Übergewicht. Das weiß freilich auch Michelberger. "Doch es ist verkürzt zu glauben, dass jeder, der dünn ist, automatisch gesund ist und umgekehrt. Und dass es gerechtfertigt ist, dicke Menschen zu beleidigen. So als würde ihnen das dabei helfen, besser für ihre Körper zu sorgen." Dass von hohem Körpergewicht auf negative Charaktereigenschaften geschlossen werde, zeige, wie gut unsere Diätkultur funktioniere, "die den Traum verkauft, alles werde automatisch besser und gesünder, wenn man dünner ist".
Den Kampf hat Melodie Michelberger aufgenommen. Und das Model Paloma Elsesser. Und die Gesellschaft für Gewichtsdiskriminierung, Aktivistin Bodymary, Plus-Size-Model Claus Fleissner und, und, und. Steter Tropfen höhlt den Stein.
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