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Müllberge und Maschinenpistolen

Im peruanischen Lima sind die Gegensätze krass: während die Armen Müll sammeln, lassen sich die Reichen bewachen.  

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Die trockene, heiße Hauptstadt Perus, die Millionenstadt Lima, findet nicht oft den Weg in deutsche Schlagzeilen. Zwei Tage vor Silvester wütete nun ein Feuer in der Altstadt von Lima, das mindestens 300 Menschen das Leben kostete - und schon waren die Medien da, mit Kameras und Mikrofonen, um über dieses außergewöhnliche Unglück und Elend in einer Stadt zu berichten, die auch im Alltag unvorstellbar viel Unglück und Elend zu sehen bekommt. JuZ-Autorin Aurea Steiner ist seit vier Monaten für einen sozialen Einsatz in Lima - und berichtet von ihren Eindrücken.

"Buenos dias, segundo grado", sagt der Lehrer, "Guten Morgen, 2. Klasse." Und ein neuer Schultag beginnt an der Waldorfschule in Lima. Die kleine Grundschule liegt in den Cieneguiellas-Bergen, einem schönen Stadtteil von Lima. Die Schule wurde 1994 von einem deutschen Ehepaar gegründet. Bis 10 Uhr findet die "clase principal", der Hauptunterricht statt: Mathe und Rechtschreibung. Danach gibt's Musik und Malen, Englisch und Deutsch, Zahlen, Verben, Lieder und Gedichte. Die Kinder gehen hier gerne zur Schule. Denn anders als an vielen staatlichen Schulen werden die Kinder nicht geschlagen und können ohne Angst die Schule besuchen.

Die Einrichtung der Klassenzimmer ist einfach: kleine Holzbänke und -stühle, Lehrerpult, Tafel. Die Wände sind mit Bildern aus dem Kunstunterricht geschmückt. Die Schulkinder kommen aus den verschiedensten Schichten Perus: reiche Professorenkinder, die einen hohen Lebensstandard gewohnt sind, ebenso Waisenkinder aus armen Verhältnissen. Wer die monatlich 250 Soles (80 Euro) fürs Schulgeld nicht aufbringen kann, bekommt im günstigsten Fall ein Armenstipendium und zahlt wenig oder gar nichts. Trotz dieser sozialen Unterschiede mögen sich die Kinder und helfen sich gegenseitig.

Das sind jetzt die letzten Tage vor den Sommerferien. Die Hitze macht sich immer mehr bemerkbar. Um 13 Uhr ist Unterrichtsschluss und die Kinder werden verabschiedet. Inzwischen ist es heiß geworden, der Weg zur Bushaltestelle ist beschwerlich. Im Schatten der Bäume warten die Kinder auf den Bus. Und das kann in Lima lange dauern. Ein lauer Wind kommt auf, der fast ein bisschen erfrischt - und gleichzeitig den Wüstenstaub aufwirbelt, der einem nun in den Augen brennt. Dann sammelt der Bus endlich alle Kinder ein, heizt durch die Berge und erreicht schließlich die schnurgerade Wüstenstraße. Der Weg in die Armut hat begonnen. Rechts und links der Straße Armenviertel: kleinste Hütten und Häuschen, zusammengenagelt aus Holz und Pappe. Weder Elektrizität noch fließendes Wasser sind in diesen primitiven Behausungen zu finden. Gebadet wird im Rio Rimac, Limas großem Fluss. Mittags sind am Flussufer Frauen, die hier Wäsche waschen und Essen kochen.

Die Menschen überleben als Tagelöhner, Straßenhändler oder Bettler. Selbst die allerjüngsten Familienmitglieder müssen mithelfen, Geld zu verdienen. Meist decken die Tageseinnahmen einer Familie gerade mal die Essenskosten. Morgens gegen 5 Uhr, verlassen die Familien die Armenviertel, schuften den ganzen Tag bis spät in die Nacht. Sie flitzen als Straßenhändler am Straßenrand entlang und nutzen die täglichen Verkehrsstaus: Flehend versuchen sie an den Autoscheiben Schokoriegel oder gekühlte Getränke zu verkaufen.

Zwischen all den Erwachsenen wuseln etliche kleine Kinder. Auch sie schuften den ganzen Tag, laufen, rufen, bitten, verkaufen. Ihre Gesichter sehen uralt und gezeichnet aus. Ihr Blick ist leer, wirkt stumpf, fast tot. Kein Lächeln ist in diesen Kindergesichtern zu sehen. Sie haben gelernt, hart zu arbeiten, genauso viel und genauso schnell wie die Erwachsenen. Wären sie nicht so klein, würde man kaum bemerken, dass das gerade mal fünfjährige Kinder sind.

Gegessen wird, was so billig ist, dass es der schmale Geldbeutel bezahlen kann, das heißt auch für die meisten Armen: Reis und Obst sind auf den Märkten zu Spottpreisen zu haben. Kinder und Erwachsene, die nicht die Möglichkeit haben, Geld zu verdienen, schlafen auf der Straße und suchen in den großen Müllhaufen am Straßenrand nach Essbarem. Ist nichts zu finden, essen sie Abfälle, Bananenschalen oder Vergammeltes.

Wer davon krank wird, hat Pech: versichert ist keiner von den Armen und die Kosten für Arzt und Medikamente sind unbezahlbar. Folglich tragen die Menschen Geschwüre und Entzündungen wie selbstverständlich mit sich herum. Diejenigen, die es besonders schlimm trifft, deren Gesichter oder Körper von Krankheiten zerfressen werden, die nicht mehr arbeiten können, gesellen sich zu den alten Bettlern auf der Brücke im Zentrum der Stadt. Dort sitzen sie Tag für Tag und Jahr für Jahr, ohne Hoffnung.

"Hohe Mauern verbergen protzige Villen, Eisengitter sperren Wohngebiete ab."

Der Schulbus erreicht nach einer holprigen Stunde "La Molina", ein umzäuntes, abgeriegeltes Wohngebiet für die Reichen. An den Straßenrändern laufen die Müllmänner, die den Abfall aufsammeln, der aus den Autofenstern geworfen wird. Wasserlastwagen kommen mittags und bewässern Grünflächen und üppige Blumenrabatten. Hohe Mauern verbergen protzige Villen, Eisengitter plus Wachpersonal sperren die Wohngebiete ab. Auf den Straßen patrouillieren rund um die Uhr die Sicherheitsdienste mit Maschinenpistolen, damit sich die Reichen nicht von den dreckigen Armen belästigt fühlen müssen.

Und während die einen Kinder Limas abends erschöpft auf ihren Matten liegen und von der Schule, einem warmen Essen oder neuen Schuhen träumen, sitzen die anderen Kinder Limas mit ihren Kindermädchen beim Abendessen und mäkeln am Gemüse herum, wenn sie es aber essen, werden ihnen zur Belohnung neue Spielsachen versprochen.

Allem Elend zum Trotz, das die Armen in Lima täglich aushalten müssen, haben sie unübersehbar Freude am Leben. Sie können sich über Kleinigkeiten freuen, die wir in Europa gar nicht registrieren würden. Ein Keks lässt da die Augen eines verwitterten Greises auf der Rimac-Brücke aufleuchten. Oder eine Gitarre wird spontan organisiert und ein Fest gefeiert, Alt und Jung tanzt und freut sich. Beeindruckend ist der Zusammenhalt dieser Menschen, ihre Hilfsbereitschaft und ihre uferlose Gastfreundschaft. Das Wenige wird geteilt, ohne irgendwelche Erwartung, sondern ganz einfach von Herzen.

Auch wer auf die Armut in Lima vorbereitet ist, ist zunächst schockiert. Vieles steht in Büchern, aber die Realität ist ganz anders: Erst, wenn man diese Armut hautnah erlebt, ahnt man, was Armut für diese Menschen tatsächlich bedeutet. Das Gefälle zwischen dem selbstverständlichen deutschen Wohlstand und den Armenvierteln von Lima ist unvorstellbar groß. Man registriert das alles ohnmächtig: alte Indios, am Ende ihrer Kräfte, die vom Staat keine Rente bekommen und in Bussen Flöte spielen, um ein paar Cents zu verdienen, kleine Kinder, die einen anflehen, einem die Schuhe putzen zu dürfen, Menschen, die Müll essen und verwahrloste Jugendliche, die vor nichts Halt machen, gewalttätig sind und morden, egal ob Weißer oder Indio.

Und man registriert die geistige Armut. Nur wenige Kinder haben die Möglichkeit, eine weiterführende Schule zu besuchen, und deren Niveau ist in der Regel schlecht: In Geschichte erfahren die Kinder dann bestenfalls von der Geschichte Perus, der Zweite Weltkrieg ist komplett unbekannt. Während den Reichen und den Europäern überall die Füße geküsst werden, wird das weniger wohlhabende Volk oft genug mit Füßen getreten.

Unvorstellbar, dass hier mehr als zwei Drittel der Menschen in unglaublicher Armut leben, während sich unsereiner in Deutschland zum Beispiel Gedanken macht, welches Kleid wir auf der nächsten Party tragen werden. Ein Problem, für das hier kaum jemand Verständnis aufbrächte. Zu Recht.

Ressort: Zisch

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