Sammeln und Horten
Messie-Syndrom: Wenn das Leben nicht mehr in Ordnung ist
Dreckige Teller, Müllberge, Gestank – so stellen sich viele die Wohnungen von Messies vor. Betroffene des pathologischen Hortens erzählen, warum das oft nicht der Realität entspricht.
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Berger ist ein Messie – so bezeichnet sie sich selbst. Sie sammelt und hortet Dinge in einem Ausmaß, das weit über das normale Aufbewahren von Sachen hinausgeht.
Waltraud Berger ist nicht ihr richtiger Name. Bis vor ein paar Jahren habe sie sich sehr für das Sammeln geschämt, jetzt wisse sie: "Ich kann nichts dafür, das ist halt die Krankheit." Trotzdem will Berger auf keinen Fall von ihrem Vermieter oder ihrem Umfeld erkannt werden. Zu sehr fürchtet sie, dann ihre Wohnung zu verlieren oder mit verletzenden Vorurteilen gegenüber Messies konfrontiert zu werden. Deshalb bleibt sie in diesem Artikel anonym und empfängt auch die Reporterin nicht in ihrer Wohnung.
Der Begriff Messie kommt von dem englischen Wort "mess", was Chaos oder Unordnung bedeutet. Ist vom Messie-Syndrom die Rede, ist damit in der Fachsprache meist das pathologische Horten gemeint – also das Sammeln von Gegenständen, von denen sich Betroffene nicht mehr trennen können. So definiert es die Deutsche Gesellschaft der Zwangserkrankungen. Erst im Januar 2022 wurde das pathologische Horten als eigenständige Diagnose in die ICD-11 aufgenommen, in das medizinische Verzeichnis für Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Dort wird die Erkrankung als "hoarding disorder" (wörtlich übersetzt: Hortungsstörung) bezeichnet und durch die "Anhäufung von Besitztümern" beschrieben, "die dazu führt, dass Wohnräume so überladen werden, dass ihre Nutzung oder Sicherheit beeinträchtigt wird".
Laut der Deutschen Gesellschaft der Zwangserkrankungen ist jeder 22. Deutsche davon betroffen. Veronika Schröter, Messie-Therapeutin in Stuttgart, spricht von 2,8 Millionen Menschen mit Messie-Syndrom – knapp jeder 30. Deutsche. Die meisten davon kommen aus der Mittel- und Oberschicht. Schröter ist sich sicher, dass die Fallzahlen steigen. Die Aufnahme in die ICD-11 war deshalb ihrer Meinung nach ein wichtiger Schritt – auch, weil es nur wenige Messie-Fachkräfte in Deutschland gebe.
Die Messie-Wohnungen sehen ganz unterschiedlich aus, erzählt Schröter: In manchen türmen sich Kisten in die Höhe, die Gänge zum Laufen sind nur ganz schmal. Ab und zu ist nur ein Zimmer betroffen, mal das ganze Haus, andere haben ein extra Lager.
So definiert es auch die Deutsche Gesellschaft der Zwangserkrankungen: Das sogenannte Diogenes-Syndrom – also die Vermüllung und Verwahrlosung – sei eine Selbstvernachlässigung, die sich auf das Wohnumfeld und das körperliche Erscheinungsbild auswirke, aber nichts mit dem pathologischen Horten zu tun habe. "Da riecht nichts, da stinkt nichts und da krabbelt auch nichts in den Wohnungen", sagt Schröter zum pathologischen Horten. Ihr ist es ein wichtiges Anliegen, solche Vorurteile gegenüber Messies zu entkräften. Genauso wenig seien Messies faul oder zu bequem zum Aufräumen.
So beschreibt es auch die Freiburgerin Sabine Winkel. Die 56-Jährige sitzt in einem karg eingerichteten Raum, die Wände und Tische sind leer, nur ein paar Pflanzen stehen herum. Es ist das Selbsthilfebüro in Freiburg, wo sie sich zweimal im Monat mit Menschen trifft, denen es so geht wie ihr. Mit den Zeitungsstapeln, dem Aufbewahren, dem Chaos. Auch Winkel bezeichnet sich selbst als Messie.
Zwar sei in ihrer Wohnung inzwischen fast alles aufgeräumt. Über manchen Kartons hänge aber noch ein Tuch, das alles "schön abdeckt", erzählt sie. Und wenn sich auf dem Wohnzimmertisch wieder etwas stapele, merke sie: Oh, es geht mir nicht gut. Das sei für sie wie eine kleine Alarmglocke.
Bis dahin, wo sie heute steht, war es ein langer Weg – das Chaos war nicht nur in ihren eigenen vier Wänden. Auch in ihr drin, sagt sie. Ihr ganzes Leben war nicht mehr in Ordnung.
Solche Gedanken kennt Messie-Expertin Veronika Schröter. "Man ist nicht einfach Messie, man wird es", sagt sie. Überwiegend liege bei Betroffenen des Messie-Syndroms eine bindungstraumatische Erfahrung als Kleinkind zugrunde – viele wurden schon früh zu etwas gezwungen, mussten sich extrem anpassen, haben sich verlassen gefühlt, waren überfordert oder emotional im Stich gelassen. Laut Schröter wissen Betroffene oft gar nicht, was die eigenen Wünsche und Bedürfnisse sind, weil sie ihre Individualität nicht entwickeln konnten. Das macht sich dann meist in einem schleichenden Prozess im Erwachsenenalter bemerkbar: "Das innere Chaos durch das Familiensystem äußert sich als Chaos in der Wohnung", sagt Schröter. "Betroffene sind überwältigt von der Welt der Dinge. Das Gesammelte bietet ihnen dann Schutz, Trost und unterdrückt den Traumaschmerz."
"Messies sammeln Dinge, die darauf warten, ins Leben integriert zu werden", sagt Veronika Schröter. "Sammeln und Horten ist im Prinzip die Sehnsucht nach Leben pur."
Waltraud Berger schaut stirnrunzelnd in ihre Flädlesuppe. "Ich kann schon lange keinen Besuch mehr einladen", sagt sie. Warum sie so viele Dinge sammelt, kann sich die Offenburgerin nicht erklären. "Aber es wurde schlimmer nach dem Tod meiner Mutter. Da hatte ich starke Schuldgefühle." In ihrem Leben sei sie großen Belastungen ausgesetzt gewesen, bereits als junges Mädchen habe sie Suizidgedanken gehabt und war als Erwachsene öfter stationär in der Psychiatrie. "Ich habe mich oft nicht gut genug gefühlt", sagt sie rückblickend.
Ihre Horrorvorstellung: Ein Handwerker muss ins Haus. Das vermeidet sie, so gut es geht. Zu groß die Angst, für ihre Unordnung verurteilt zu werden. "Deshalb habe ich der Hausverwaltung damals nicht erzählt, dass die Heizungen in den Wohnräumen kaputt gegangen sind", sagt Berger und zuckt mit den Schultern. Seit mehr als 20 Jahren lebt sie ohne Heizung. Deshalb sei ihr Lieblingsort das Bad, erzählt sie. Nur dort sei es immer schön warm. Meist setzt sie sich auf den Klodeckel und strickt. Die Badewanne nutzt sie als Tisch, weil die bis oben gefüllt ist.
Doch einmal gab es keinen Ausweg. Es hatte sich ein Handwerker angekündigt, der die Fenster austauschen musste. Dafür gab es eine Frist, die Berger stark unter Druck setzte. Aber an ihre Fenster wäre niemand herangekommen, weil auch dort alles vollgestellt war. "Da wurde mir bewusst, dass ich mir Hilfe holen muss", sagt sie.
"Wenn ich ausmiste, muss ich das selbst erledigen", sagt Berger. "Und dafür brauche ich Zeit. Aber die hatte ich nicht." Also musste eine andere Lösung her: Gemeinsam mit Freyler und Decoux hat sie alles, was sich vor den Fenstern gestapelt hat, umverpackt und in komprimierter Form an der gegenüberliegenden Wand gestapelt. Berger hat den Haufen dann mit einem Tuch überdeckt und der Handwerker konnte kommen. "Ohne die beiden Frauen hätte ich das nicht geschafft", sagt Berger. Die Kosten für deren Hilfe hat nach langem Warten das Sozialamt übernommen. Danach hat Berger angefangen, aufzuräumen. "In zwei Jahren habe ich 160 Schuhkartons ausgeräumt", erzählt sie stolz. Der Keller sei inzwischen schon komplett ausgemistet. Vieles habe sie an soziale Projekte gespendet. "Es fällt mir dann viel leichter, die Dinge herzugeben", sagt Berger.
Auch Sabine Winkel aus Freiburg versuchte, die angesammelten Dinge zu verschenken. Bücher, Bürokram, Kleidung. Ganz wichtig sei es, dass Betroffene wie sie selbst entscheiden, was sie hergeben und was nicht, sagt Winkel. Oft sei das aber frustrierend gewesen, weil viele ihrer Spenden abgelehnt wurden. Ein Second-Hand-Laden habe ihr aufgrund der häufigen Besuche sogar Hausverbot erteilt.
Warum sich Messie-Betroffene nicht beim Entrümpeln helfen lassen, können viele Angehörige nur schwer verstehen. Winkel beschreibt das als "ewigen Teufelskreis": Beim Blick auf einen riesigen Berg an Gegenständen trete bei vielen Messies eine schlagartige Müdigkeit ein und ein tiefes Gefühl von Versagen. Wenn jemand von außen kommt, der – wenn auch aus guter Absicht – das Aufräumen übernehmen will, wird die Blockade noch größer. Winkel nimmt das als Entmündigung wahr. Wut, Verzweiflung und Versagen ließen Betroffene sich ohnmächtig fühlen. "Es ist eigentlich seelenüberlebenswichtig, sich an dieser Stelle zu wehren", sagt Winkel. Aber das gehe in solchen Situationen nicht: Wieder sei man innerlich blockiert und wie gelähmt, zutiefst beschämt und verzweifelt über das eigene Verhalten, beschreibt die Freiburgerin.
"Es ist die Hölle für Messies, wenn jemand anderes die Sachen wegschmeißt", weiß Winkel aus Erfahrung. Sie empfiehlt den Angehörigen daher, zu fragen, wie genau sie helfen könnten. "Man muss uns Messies die Macht zum Entscheiden lassen", sagt sie.
Wenn Winkel im Selbsthilfebüro vom Messie-Syndrom erzählt, sprudeln die Worte nur so aus ihr heraus. Sie möchte, dass andere Betroffene spüren, dass sie nicht alleine sind – und dass sie sich nicht für das Horten schämen müssen.
Einige Fernsehdokus zu dem Thema machen das Bild von Messies, das in der Gesellschaft verbreitet ist, noch schlimmer. Sie seien extrem überspitzt und nur auf Sensation ausgelegt, sagt die Messie-Fachkraft Stefanie Freyler: "Das verstärkt das Schamgefühl der Betroffenen noch mehr. Im schlimmsten Fall ist es für sie traumatisierend. Das kann bis hin zu Suizidgedanken führen."
Veronika Schröter beschreibt in ihrem Buch "Messie-Welten" die Situation, als ein Fernsehsender mit dem Angebot auf sie zukam, in einem Sendeformat als Messie-Expertin aufzutreten. Darin würden Messies den Zuschauern Einblicke in ihre Wohnsituation geben. Schröter wunderte sich, dass für so etwas Betroffene gefunden werden – immerhin sei das Zeigen der Wohnung für die meisten ein großes Tabu. Die Assistentin des Fernsehsenders erklärte das laut Schröter so, dass es genug Personen gebe, die für 500 Euro ihre Wohnung zur Verfügung stellen würden – den nötigen Müll könne man dann einfach von der Müllkippe besorgen. Schröter lehnte das Angebot ab.
Für Sabine Winkel war die Freiburger Selbsthilfegruppe die Möglichkeit, sich aus dieser Einsamkeit zu befreien. "Wir teilen unsere Ängste", erzählt Winkel, "aber wir lachen auch sehr viel. Selbstironie und Galgenhumor tun gut." Die Gruppe unterstützt sich ab und zu gegenseitig beim Aufräumen, wenn klar ist, was wohin geräumt werden soll. Bei anderen aufzuräumen sei gar kein Problem, sagt Winkel. So ist es auch immer die Messie-Gruppe, die für Ordnung in der Küche des Selbsthilfebüros sorgt.
Für einige Betroffene ist diese Selbsthilfegruppe schon Unterstützung genug. Andere bräuchten zusätzliche Hilfe – denn ohne Selbstwertschätzung laufe nichts, sagt Winkel. Und die müsse erst einmal entwickelt werden. So sieht es auch die Messie-Therapeutin Veronika Schröter: "Nicht ein Schnipsel wird die Wohnung verlassen, bevor die Traumaerfahrung nicht verarbeitet wird."
Das Problem bei der Therapie des Messie-Syndroms: Die Erkrankung wird oft unzureichend behandelt. "Viele Therapeuten sind zwar sehr gut ausgebildet, aber verstehen das Messie-Syndrom noch falsch: Sie sehen es als Aufräumproblem. Dabei ist es ein Identitätsproblem", sagt Veronika Schröter.
Sie hofft, dass mit der WHO-Anerkennung des pathologischen Hortens als eigenständige Diagnose bald mehr Aus- und Weiterbildungen von Fachkräften stattfinden. Außerdem setzt sie sich dafür ein, dass spezielle Messie-Therapien von der Krankenkasse übernommen werden. Das ist bislang nämlich nicht immer der Fall.
Vom Hausarzt werden Betroffene häufiger zur Verhaltenstherapie geschickt, die sich um die Aufräumproblematik kümmert. Doch das behandle nicht die Ursache des Messie-Syndroms und wirke daher sogar teilweise symptomverschlimmernd, sagt Gunter Bordel, Gestalttherapeut aus Buchholz: "Die Krankenkassen sollten sich auch für andere Therapiewege öffnen."
Waltraud Berger findet das "unverantwortbar". Sie und viele andere Betroffene hätten schon viel früher eine passende Therapie bekommen können, wenn es mehr bezahlbare Expertise zum Messie-Syndrom geben würde, sagt sie. Mit viel Glück ist sie letztlich bei der Messie-Lebenshilfe gelandet.
Ihr Traum sei es jetzt, die ganze Wohnung wieder bewohnbar zu machen. "Ich stelle mir oft vor, wie schön es bei mir aussehen könnte", meint Berger und schaut lächelnd aus dem Fenster des Cafés. "Bei mir ist zwar noch nicht alles wieder in Ordnung, aber ich bemühe mich darum." Stück für Stück schaffe sie in ihrer Wohnung wieder Platz – auch für sich selbst.
- Messie-Lebenshilfe Südbaden, 07852/ 9379237, [email protected]
- Messie-Selbsthilfegruppe Freiburg, http://www.selbsthilfegruppen-freiburg.de 0761/2168735
- Messie-Selbsthilfegruppe Basel, [email protected], +4161/6899090, http://www.lessmess.ch
- Messie-Syndrom Selbsthilfegruppe Offenburg, 0781/8059771
- Messie-Kompetenz-Zentrum Stuttgart, http://www.messie-kompetenz-zentrum.de
- Messie-Hilfe-Telefon: 089/55064890, dienstags 9-12 Uhr, donnerstags 15-18 Uhr
- Ursachen und Therapie: Zwangsstörungen beginnen häufig schon im Kindesalter
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