Mein Leben als Supermarkt – alles nur ein Fake
Butterhaltig, fruchtsaftähnlich – kaum etwas im Lebensmittelladen ist noch, was es zu sein scheint. Und unser Leben? Eine Glosse.
Juz-Mitarbeiter Sebastian Lehmann
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Aber plötzlich wird es ganz still im "Minus", das Licht geht aus, die Düdel-Musik verstummt. Und vor meinem Einkaufswagen steht im helle Lichtschein: Meine Mutter. Mit besorgter Miene blickt sie in meinen Einkaufswagen. Und auch ich senke meinen Blick auf die eingeladenen Produkte und als ich wieder aufschaue, ist meine Mutter schon wieder verschwunden, Licht und Musik wie vorher und das Treiben im Supermarkt ist wieder wie vor meiner Vision. Der Vision meines Gesundheitsgewissens.
Aber was ich eben in meinem Einkaufswagen entdecken musste, ist erschreckend: Gar keine richtigen Produkte liegen da, sondern nur zum Beispiel ein Orangen-Fruchtsaft-Getränk, das sich nicht Orangen-Saft nennen darf, weil wahrscheinlich mehr Farbstoff drin ist, als Orangen. Oder ein fetthaltiger Brotaufstrich mit Buttermilch liegt darin, was wohl Butter sein soll. Und ein weinhaltiger Punch names Piri Piri, eine englische Teemischung, die kein Schwarztee sein darf, nicht einmal "the real thing" Coca-Cola liegt da, sondern nur eine koffeinhaltige Limonadenbrause. Alles nur Fake, keine echten Produkte sind in meinen Einkaufswagen gelangt. Meine Mutter hat recht: Was für minderwertige Waren mit ungesunden Inhaltsstoffen kaufe ich eigentlich? Nur weil sie billiger sind, will ich meiner Gesundheit, meinem Leben schaden. Aber was kann ich denn dafür? Na gut, es gibt ein Reinheitsgebot für Bier und bei Bäcker Kamps das Brotbackreinheitsgebot. Aber wo bleibt das Butterreinheitsgebot, die Orangen-Saft-Kontrolle? Mit nur einer kleinen Namensänderung wird der Betrug am Kunden, an mir, vollzogen! Nichts mehr ist echt, nichts wahr.
Ich renne wie betäubt sofort aus dem "Minus" auf die Straße. Alles wird dunkel vor meinen Augen und die Menschen überall um mich herum, blind für den Betrug. Und auch ich war es so lange! Was war das eigentlich die ganzen Jahre? Mit meinem Leben? Studierte ich wirklich, ging ich wirklich zur Uni oder war es nur ein bildungshaltiges Diskussionsforum? Hörte ich wirklich echte Musik oder nur Instrumentengeklimper mit Gesang? Schreibe ich diesen Text wirklich oder ist es nur Buchstabenreihung nach grammatikalischen Regeln? Und – mir wird immer schwindliger – ist das eigentlich wirklich das Leben hier oder nur eine lebenshaltige Daseinsform?
Nicht unweit des Supermarktes, der ja nur ein Discounter ist, breche ich zusammen. Aber ich habe keine Angst mehr zu sterben. Ich glaube nicht mehr an den Tod, selbst wenn es keinen Gott mehr gibt, sondern nur noch ein allmächtiges überirdisches Wesen mit Superkräften, ich fürchte mich nicht mehr vor dem Tod. Und als ich so daliege, weiß ich, ich werde jetzt nicht sterben, ich werde nicht tot sein, nur in einen existenzleeren Raum ohne Erinnerungen und Gefühle wechseln, todeshaltig, aber nicht tot. Mein Leben war ja auch kein Supermarkt, nur ein billiger Discounter. Wo bleibt das Lebensreinheitsgebot?
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