Bildung
Deutschlands Schüler schreiben zu wenig mit der Hand
Deutschlands Schüler stehen auf Kriegsfuß mit der Handschrift. Jeder sechste Schüler kann nicht leserlich schreiben. Systematisches Üben gilt als vorgestrig. Aber eine Lehrerin kämpft genau dafür.
Maria-Anna Schulze Brüning & Stephan Clauss
Sa, 8. Apr 2017, 0:00 Uhr
Kultur
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Jahrtausende hat es gedauert, bis die Schrift in Europa zum allgemeinen Kulturgut wurde und alle sozialen Schichten erreicht hatte. Anfang des 20. Jahrhunderts hatten fast alle Deutschen, ob sie nun auf den Bauernhöfen, im Bergbau oder in den Fabriken arbeiteten, in der Volksschule eine Handschrift erlernt, die man lesen konnte. Nur die sprichwörtlichen Arzthandschriften galten als unleserlich. Natürlich: Wer Tag für Tag ähnliche oder identische Kurztexte schreibt, verkürzt und ökonomisiert die Schrift in hohem Maße. Diese Verschleißerscheinungen der Schrift im Berufsalltag sind aber nicht mit fehlender Schreibfertigkeit zu verwechseln. Wenn jedoch heute Einträge in Schulheften aussehen wie ebensolche Arztrezepte oder -berichte, dann handelt es sich nicht um individuelle Vereinfachungen einer erlernten Normschrift, sondern um das sichtbare Ergebnis einer grundsätzlich fehlenden Schriftkompetenz. Und dieses Nicht-schreiben-Können ist nun seit mehr als drei Jahrzehnten bei einer zunehmenden Zahl von Kindern und Jugendlichen festzustellen. Immer mehr Kinder können nicht leserlich und oft nur mit großer Anstrengung schreiben. Krakelschriften sind keine Einzelfälle mehr, sondern in den Klassenzimmern längst zur Normalität geworden.
Erstaunlich ist, dass sich dieser schleichende Verfall der Handschrift so lange scheinbar unbemerkt fortsetzen konnte. Erst im Jahre 2015 schlug der Deutsche Lehrerverband Alarm und gab eine Umfrage in Auftrag, um das ganze Ausmaß des Schriftdesasters zu verdeutlichen. Insgesamt 2002 Lehrerinnen und Lehrer aus 16 Bundesländern wurden befragt und stellten fest, dass etwa 51 Prozent der Schüler und 31 Prozent der Schülerinnen Schwierigkeiten beim Handschreiben haben. Aus Sicht der befragten Lehrkräfte können nur etwa 29 Prozent der Kinder des fünften und sechsten Jahrgangs über eine Zeitspanne von mindestens 30 Minuten beschwerde frei mit der Hand schreiben.
Eine Untersuchung, die ich 2011 in Hamm (Westfalen) durchführte, ergab, dass dort jedes sechste Schulkind nicht leserlich schreiben konnte. Als Grundlage dienten 1091 Schriftproben der 5. und 6. Klassen von sechs Schulen: zwei Gymnasien, zwei Realschulen, einer Gesamtschule und einer Hauptschule.
Interessanterweise gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen den einzelnen Schulformen! Das heißt, Krakelschriften sind an allen Schulen gleichermaßen zu finden und offenbar nicht abhängig vom Lernniveau. (... )
Der allmähliche Verfall der Handschrift ist ein für die Gesellschaft insgesamt folgenreiches Problem, weil es das Lernen in unseren Schulen massiv beeinträchtigt. Nicht-Betroffene denken oft, es gehe nur um mangelnde Schönschrift, es handle sich vornehmlich um ein ästhetisches Manko. Nein! Es geht um ein fehlendes Fundament des Lernens. Deutlicher formuliert: Für sehr viele Kinder ist die mangelnde Schriftkompetenz eine Katastrophe. Sie kann im Extremfall aus einem normal begabten Schüler einen Schulversager machen, der immer dann, wenn es ums schriftliche Arbeiten geht, nicht mithalten kann und frustriert das Handtuch wirft. Erstaunlicherweise leiden Kinder aller sozialer Schichten und unterschiedlichster Lernniveaus unter diesem neuen Phänomen. Mancher Förderschüler kann unter Umständen leserlicher schreiben als sein Altersgenosse vom Gymnasium nebenan. Wie ist das möglich? Wenn es weder eine Frage der Intelligenz noch eine Frage der sozialen Herkunft ist, ob ein Kind eine lesbare Handschrift erlernt oder nicht, woran liegt es dann? An motorischen Störungen? Die gibt es sicherlich auch und die hat es immer gegeben. In den allermeisten Fällen ist es jedoch eindeutig eine Frage der Vermittlung! Und dabei geht es um zweierlei: um den Stellenwert der Handschrift im Bildungskanon und um die konkrete Didaktik. Also erstens: Welche Bedeutung wird der Handschrift und ihrem korrekten Erwerb überhaupt beigemessen? Zweitens: Wie erfolgt der Schrifterwerb genau? Welche Buchstaben und Buchstabenformen werden in welcher Reihenfolge erlernt und auf welche Art und Weise? Wie ist die Schrift aufgebaut? Diesem zweiten Part widmet sich dieses Buch sehr ausführlich, denn Eltern und Lehrer können nur intervenieren, wenn sie ganz konkrete Ansatzpunkte finden, wie sie Fehlentwicklungen verhindern, Falsches korrigieren und eine geläufige Handschrift mit dem Kind trainieren können.
Die tieferen Ursachen für das Verkommen dieser Kulturtechnik liegen jedoch in einer Neubewertung ihres Stellenwerts im bildungspolitischen Gesamtkonzept. (... ) In den Schulen hat sich in den vergangenen 50 Jahren ein grundlegender Wandel vollzogen, der nicht nur Auswirkungen auf die Bildungsinhalte und ihre Gewichtung, sondern insbesondere auf die Art zu lernen und zu unterrichten hatte. Auch das Selbstverständnis von Schülern und Lehrern hat sich stark verändert. (... )
"Alles schläft und einer spricht, das Ganze nennt man Unterricht." Dieser Spruch gibt eine weit verbreitete Vorstellung von Unterricht wieder, die einem traditionellen, längst überholten Bild der Schule verhaftet ist, wie sie noch in der Nachkriegszeit anzutreffen war. Die damals herrschenden Unterrichts-Prinzipien werden gern mit dem Begriff Paukschule beschrieben. Es galt, einen festen Fächerkanon mit streng strukturiertem Inventar zu vermitteln – und die Methoden dazu waren nicht gerade zimperlich. Körperliche Züchtigung beispielsweise war durchaus noch üblich und kam nicht nur bei schlechtem Betragen, sondern auch bei Lernversäumnissen zum Einsatz. Auch ermüdendes Abschreiben in Strafarbeiten war ein beliebtes Sanktionsmittel, das sicher dazu beigetragen hat, dass das Handschreiben später als Drill und Qual in Verruf geraten konnte.
Gehorsam und Anpassung waren die Tugenden, die auf dem heimlichen Lehrplan der frühen Bundesrepublik standen und die Sozialisation dieser nachhaltig prägten. Kritik und Protest der Studentenbewegung der Sechzigerjahre galten ebendiesen verkrusteten Autoritätsstrukturen, die in allen gesellschaftlichen Bereichen auch nach 1945 noch anzutreffen waren. (... ) Das Aufbrechen der Autoritätsstrukturen in Schule, Staat und Familie wurde als Grundvoraussetzung einer gesellschaftlichen Veränderung hin zu mehr Gerechtigkeit und Demokratie gesehen.
Einen Schlüssel zur gesellschaftlichen Neugestaltung sah man in der Umstrukturierung der Kommunikation. Der herrschaftsfreie Diskurs, den vor allem der Philosoph Jürgen Habermas als Grundlage einer emanzipierten Gesellschaft definierte, wurde zum Leitbegriff, auch in den Schulen. Dort leitete er einen Paradigmenwechsel ein, die sogenannte kommunikative Wende. Frontalunterricht und Instruktion durch den Lehrer galten nun als Einbahnstraßenkommunikation. Im Mittelpunkt sollte die gleichberechtigte Kommunikation zwischen Lehrern und Schülern stehen. Inhalte und sachlogische Zusammenhänge traten in den Hintergrund zugunsten der sozialen Interaktion. (... )
Das systematische Üben ist aus der Mode gekommen, und das Üben der Handschrift, wie es in sogenannten Schönschreibstunden erfolgte, erst recht. Erschöpfte Schüler mit gebeugten Köpfen, in Holzbänken sitzend, reihen mit klecksenden Federn Armeen von Buchstaben ins Heft. Dieses Bild wird evoziert, wenn von Schönschriftunterricht die Rede ist. Schönschrift steht für Üben, Schweiß und strenge Normvorgaben. Mit der antiautoritären Bewegung musste der Schönschriftunterricht zur Zielscheibe werden. Üben erinnerte an Drill und Exerzieren, exakte Formvorgaben standen für Überanpassung und Gehorsamspflicht. Der traditionelle Schreibunterricht wurde zum Sinnbild für Disziplin und Drill, und so ist er bis heute in den Köpfen verankert. Ob aber das Schreibenüben selbst oder der damalige strenge Unterricht einengend und unangenehm waren, ob es tatsächlich nur eine Qual war, Buchstaben zu üben, wird nicht hinterfragt. Meine Erfahrungen sind ganz andere. Fast alle Kinder schreiben gern und freuen sich, wenn sie sich ausschließlich ihrer Schrift widmen können – auch diejenigen, die unleserlich schreiben.
Die Assoziation von Drill und Schreibenüben, das Bild des von Schriftübungen gequälten Kindes hält sich hartnäckig und wird in Schriftdiskussionen immer wieder wirkungsvoll als schlagendes Argument eingesetzt. Insbesondere wenn es um die Abschaffung der Schreibschrift und die Durchsetzung der scheinbar kinderleichten Druckschrift geht, wird gern an das preußische Szenario erinnert: "Manchmal hat man bei den Kämpfern für die Schreibschrift das Gefühl, es geht ihnen genau darum: dass Sechs-, Sieben-, Achtjährigen nicht schon wieder etwas abgenommen wird, das man nur meistern kann, wenn man sich der Disziplin unterwirft" (Praschl 2012). Druckbuchstaben reichen, die muss man nicht üben, nur Schreibschrift braucht Übung, und darum ist sie Schikane – so eine weit verbreitete Meinung. Jeder, der nicht beipflichtet, wenn behauptet wird, dass doch alles "ganz easy" sei oder sein müsse, jeder, der eine sorgfältige Erarbeitung anmahnt, kann leicht in die Rolle des autoritären Schulmeisters gedrängt werden, der für Disziplin, Unterwerfung und sinnloses Üben eintritt.
Aber die Disziplin, die das Üben erfordert, war nicht die einzige Angriffsfläche, die die Handschrift bot. Die Perspektive auf die Handschrift selbst änderte sich mit der kommunikativen Wende. Schrift sollte Kindern ermöglichen, ihre kommunikativen Fähigkeiten zu entwickeln. Die Handschrift selbst spielte dabei eine untergeordnete Rolle; sie war nur noch Mittel zum Zweck und büßte ihren Eigenwert ein. Warum muss eine Handschrift gleichmäßig oder gar ansprechend sein, wenn es doch nur darum geht, etwas so mitzuteilen, dass der andere verstehen kann, was gemeint ist?
Diese kurze Skizze der Veränderung der Rahmenbedingungen der Schule lässt ahnen, wie unterschiedlich das Handschreiben gelehrt wurde und wird. Das Angebot reicht vom klassischen Einführen und Üben aller Buchstaben des Alphabets bis hin zur absoluten Freiarbeit. Dort ist es den Kindern dann selbst überlassen, wann, wie oft und in welcher Reihenfolge sie mit Karteikärtchen oder Arbeitsblättern Buchstaben üben möchten. Wie und wann nach der Druckschrift eine Schreibschrift eingeführt wird und welcher Schrifttyp es sein soll, ist oft ebenfalls Angelegenheit der Schule. Mancherorts, zum Beispiel in Hamburg, ist es den Schulen ganz freigestellt, ob sie die Schreibschrift überhaupt noch lehren wollen. Eltern sind die großen konzeptionellen Unterschiede zwischen den einzelnen Schulen oft gar nicht bewusst. Sie vertrauen darauf, dass ein Konzept so gut ist wie das andere und dass jedes solide und wissenschaftlich abgesichert ist.
Unsere Autorin ist seit mehr als 25 Jahren Lehrerin für Französisch und Kunst an einer Gesamtschule in Hamm. Sie wertet jedes Jahr die Handschriften von 165 bis 180 Fünftklässlern aus und verfolgt ihre Entwicklung. Nach ihrer Erfahrung haben bis zum Ende der sechsten Klasse zwei Drittel der Schüler die Schreibschrift aufgegeben, wenn sie sie denn überhaupt je richtig gelernt haben. » Zusammen mit dem Journalisten Stephan Clauss hat sie jetzt ein neues Buch geschrieben:
"Wer nicht schreibt bleibt, bleibt dumm", Piper-Verlag, München,2017, 304 Seiten, 22 Euro.
Die Autorin im Internet:
http://www.handschrift-schreibschrift.de
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