Familienwohngruppe Herbolzheim
Letzte Chance: Jugendheim
Kerstin Reymann und ihr Lebensgefährte Achillefs Hristanas-Psallas leiten eine Familienwohngruppe in Herbolzheim. Dort leben Jugendliche, die Straftaten begangen haben und die mit ihrer familiären Situation zuhause nicht mehr klar kommen. In der Gruppe sollen sie lernen, wie sie respektvoll mit anderen Menschen umgehen und positiv in die Zukunft blicken können, ohne in ihr "altes Ich" zu verfallen. Leonie Willmann und Maria Hristana-Psalla haben Kerstin Reymann interviewt.
Leonie Willmann, Maria Hristana Psalla, Klasse 8.2 & Paula -Fürst-Schule Freiburg
Mo, 12. Nov 2012, 15:08 Uhr
Schülertexte
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Zischup: Warum leiten Sie diese Einrichtung?
Reymann: Ich habe vor circa zehn Jahren in Kooperation mit einem Träger zuerst ein "Standprojekt" in Lenzkirch gegründet, mittlerweile arbeite ich als selbständige Pädagogin und Leiterin der Familienwohngruppe in Herbolzheim in Kooperation mit der HWP – Kinder-/Jugend-/Familienhilfe mit Sitz in Aalen. Als Leiterin der Einrichtung bringe ich die dafür notwendige Fachkompetenz mit. So kann ich als Leitungskraft eine kompetente Ansprechpartnerin für meine Mitarbeiterinnen sein, ihnen fachliche Kompetenz vermitteln, sie in schwierigen Situationen beraten, Konflikte klären und den alltäglichen Ablauf in der Einrichtung planen, organisieren und die Einrichtung nach außen gut vertreten.
Zischup: Ab wie viel Jahren können die Jugendlichen bei Ihnen wohnen?
Reymann: Wie auch andere soziale Einrichtungen haben wir eine Betriebserlaubnis – wir dürfen maximal vier Kinder und Jugendliche im Alter von zwölf bis 18 Jahren aufnehmen. In Ausnahmefällen dürfen ältere Jugendliche auch bis zum 21. Lebensjahr hierbleiben, um ihren Schulabschluss oder ihre Berufsausbildung zu beenden. Manchmal fragen Jugendämter, ob wir auch einen Platz für einen jüngeren Jungen haben, der bis zur Volljährigkeit in einer Wohngruppe bleiben sollte. Zum Beispiel wenn er Vollwaise ist – dafür brauchen wir dann eine Genehmigung des Kommunalverbands für Jugend und Soziales.
Zischup: Wie groß ist das Haus?
Reymann: Das Haus hat circa 260 Quadratmeter. In der Parterre wohnt ein Jugendlicher, dort befindet sich auch ein Mitarbeiterzimmer und ein Bad. In der mittleren Etage wohnen drei Kinder und Jugendliche in eigenen Zimmern mit einem gemeinsamen Bad und TV-Raum, außerdem gibt es dort eine große gemeinsame Küche. Im Dachgeschoss ist unsere private Wohnung und zwei Kinderzimmer für die Kinder meines Lebensgefährten, außerdem das Büro. Unser Wohnzimmer wird aber auch für Mitarbeiterbesprechungen und bei der monatlichen Supervision genutzt.
Zischup: Bringen die Jugendlichen ihre eigenen Möbel mit?
Reymann: Alle Zimmer sind möbliert – wer möchte, kann aber auch die eigenen Möbel mitbringen.
Zischup: Wie ist der Umgang mit den Eltern?
Reymann: Bevor die Kinder oder Jugendlichen zu uns kommen, hat es in den Familien häufig viele Konflikte und Streit gegeben. Wir versuchen, zwischen Eltern und Kindern zu vermitteln, Streit zu schlichten und unterstützen alle dabei, einen höflichen und respektvollen Umgang miteinander zu lernen. Nach einiger Zeit gelingt es, dass die Kinder und Jugendlichen zweimal im Monat ihre Eltern besuchen können oder von ihren Eltern hier besucht werden und dann auch die Feiertage und Ferien wieder gemeinsam verbringen können.
Zischup: Was bedeuten Ihnen die Kinder und Jugendlichen?
Reymann: Ich mag Kinder und Jugendliche – sie sind "unsere Zukunft", bilden und gestalten die zukünftige Gesellschaft in unserem Land und in Europa. Alle Kinder sollten die bestmöglichen Chancen und Ausbildungen dafür bekommen.
Zischup: Wie stehen sie zu den Kindern und Jugendlichen?
Reymann: Ich mag sie, so wie sie sind; ich versuche, ihre "kreativen" Verhaltensweisen zu verstehen, auch wenn ich nicht immer mit ihrem Verhalten einverstanden bin. Einmal sagte meine Tochter zu mir, dass ich mit den Kindern so umgehe wie mit ihr früher.
Zischup: Wie ist der Tagesablauf?
Reymann: Die Kinder und Jugendlichen werden morgens geweckt und ein Mitarbeiter frühstückt gemeinsam mit ihnen. Dann gehen alle in die Schulen, zum Praktikum oder zu ihren Ausbildungsplätzen. Diejenigen, die mittags wieder hierher kommen, bekommen warmes Essen und erzählen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, wie ihr Vormittag verlaufen ist. Anschließend werden die Hausaufgaben in den eigenen Zimmern erledigt. Danach hat ein Jugendlicher reihum Waschtag und wäscht seine Wäsche. Nachmittags besuchen sie Freunde oder treffen sich draußen mit ihren Freunden oder gehen in den Sportverein. Ab 17 Uhr wird wieder reihum mit einem Jugendlichen das Abendessen gekocht, wir essen alle gemeinsam, besprechen aktuelle Themen, planen das Wochenende. Nach dem Abendessen wird gemeinsam die Küche aufgeräumt und die Kinder und Jugendlichen haben Freizeit – einige gehen noch einmal raus, es wird gemeinsam gespielt oder sie sehen fern. Ab 20.30 Uhr müssen sie sich – je nach Alter – "bettfein" machen, um 21.30 h in ihren Zimmern sein und um 22.00 h das Licht ausmachen. Am Wochenende frühstücken wir erst um 11 Uhr, danach unternehmen wir entweder etwas gemeinsam oder sie sind mit Freunden verabredet. Am Wochenende dürfen auch Freunde hier übernachten – oder sie bei denen und sie können länger aufbleiben. Alle Kinder und Jugendliche dürfen ein- bis zweimal im Monat nachhause fahren.
Zischup: Was unternehmen sie mit den Kindern und Jugendlichen?
Reymann: Wir leben mit den Kindern und Jugendlichen "familienähnlich" – wir gehen mit ihnen schwimmen, Ski- und Snowboardfahren, haben Iglus gebaut, machen Ausflüge in die Umgebung, gehen ins Kino/Theater, auf Veranstaltungen und Feste. Außerdem verbringen wir die Ferien gemeinsam mit ihnen und fahren in den Pfingst- und Sommerferien mit ihnen nach Griechenland. Dort können wir schwimmen, angeln, schnorcheln, tauchen, auf den Olymp steigen und die Meteora-Klöster besichtigen. Mittlerweile haben die Kinder und Jugendlichen dort auch griechische Freunde und Freundinnen gefunden, mit denen sie die Zeit gemeinsam verbringen.
Zischup: Wie finanzieren sie den Urlaub in Griechenland?
Reymann: Wir selbst machen keinen Urlaub in Griechenland. Die Kinder und Jugendlichen sind vollstationär bei uns untergebracht, das heißt
sie sind 352 Tage im Jahr hier und somit auch in den Ferien. Da die Eltern berufstätig sind und häufig auch nicht die Möglichkeit haben, die Ferien mit ihren Kindern zu verbringen – oder die Jugendlichen es nicht möchten – fahren wir mit den Kindern nach Griechenland. Auf einer griechischen Insel konnte ich vor einigen Jahren preiswert ein Haus kaufen und wir verbringen dort gemeinsam mit ihnen "pädagogische Ferienfreizeiten". Diese werden ergänzend zu der Betreuung in Herbolzheim zwei- bis dreimal im Jahr als Freizeitprojekte durchgeführt und sind erlebnispädagogische Angebote zu Land und zu Wasser, die das jeweilige Selbstwertgefühl und die Gruppenintegration der Kinder und Jugendlichen fördern. Die Finanzierung erfolgt zum einem durch die "Freizeitpauschale", die die Jugendämter zur Verfügung stellen, zum größten Teil aber durch eigene Mittel.
Zischup: Gibt es auch Strafen und wann?
Reymann: Es gibt keine Strafen, nur angekündigte und abgesprochene Konsequenzen. Wenn die Kinder und Jugendlichen absichtlich etwas kaputt machen, müssen sie es selber reparieren oder vom Taschengeld ersetzen. Sie dürfen niemanden beschimpfen oder beleidigen, in unserer Gegenwart keine "Jugendsprache" wie "ey Alter" oder "voll geil" benutzen – auf dieses Verhalten erfolgen Konsequenzen.
Wenn sie draußen klauen, rauchen oder sich schlecht benehmen, dürfen sie nicht mehr alleine raus gehen, ebenso, wenn sie sich nicht an gemeinsam getroffene Absprachen halten. Das Haus ist nie abgeschlossen, meist halten sie sich an die Absprachen.
Zischup: Bieten sie auch Ausbildungsplätze an? Wie funktioniert es mit den Auszubildenden?
Reymann: Ich habe in den letzten Jahren immer Auszubildende zum Jugend- und Heimerzieher oder Sozialarbeiter/-pädagogen mit ausgebildet beziehungsweise sie haben hier ihr Anerkennungsjahr absolviert. Wir hatten auch einen Zivildienstleistenden, der im Rahmen des Zivildienstes hier sein soziales Jahr geleistet hat. In einigen Fällen musste die Ausbildung hier allerdings vorzeitig beendet werden, da die Auszubildenden noch zu sehr mit ihrer eigenen "Pubertät" beschäftigt waren, beziehungsweise es fehlte ihnen an Vorbildfunktion und Verantwortungsbewusstsein.
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