Interview

Leiterin des Freiburger NS-Dokuzentrums: "Ein offener Ort sein, der sich kritisch mit der NS-Geschichte auseinandersetzt"

Seit Freitag ist das neue NS-Dokumentationszentrum in Freiburg geöffnet. Kurz davor sprach dessen Leiterin, die Historikerin Julia Wolrab, über Entstehung und Sinn der Einrichtung.  

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Das neue NS-Dokumentationszentrum am R... das Gebäude stammt aus dem Jahr 1936.  | Foto: Thomas Kunz
Das neue NS-Dokumentationszentrum am Rande der Freiburger Altstadt, das Gebäude stammt aus dem Jahr 1936. Foto: Thomas Kunz 

BZ: Frau Wolrab, was interessiert Sie persönlich an der NS-Zeit?

Ich kann mich an eine Situation erinnern, als ich mit etwa zehn Jahren bei meiner zwei Jahre älteren Cousine zu Besuch war. Sie hatte ein Buch, in dem der Holocaust beschrieben wurde und Bilder der Leichenberge in den KZ abgebildet waren. Das hat mich geschockt, gleichzeitig hat es etwas ausgelöst in mir. Ich habe das erste Mal angefangen nachzufragen, was da eigentlich gewesen ist und wer das gemacht hat. Ich habe mich in der Gymnasialzeit dann intensiver mit der Weißen Rose befasst, weil ich in der Nähe von Ulm Abi gemacht habe, wo die Geschwister Scholl zeitweise gelebt haben und wo die Weiße Rose einfach präsent ist. Ein nachhaltig bewegendes Erlebnis für mich war dann, als ich hier in Freiburg Geschichte studiert habe und wir eine Exkursion in die KZ-Gedenkstätte Auschwitz gemacht haben, das ist mir bis heute in fast bildlicher Erinnerung.

BZ: Frau Wolrab, Sie haben seit 2020 an der Planung des NS-Dokumentationszentrum gearbeitet.

Ja, in den vergangenen knapp fünf Jahren ist ganz viel Arbeit von vielen unterschiedlichen Menschen in das Projekt eingeflossen und jetzt sieht man das Ergebnis. Es herrschte eine Vorfreude, das alles der Öffentlichkeit zu übergeben. Im Grunde kann man dieser Aufgabe aber nie gerecht werden, wenn man sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus und den Biografien der Verfolgten beschäftigt.

BZ: Warum nicht?

Man hätte immer gerne mehr drin von all den Ideen und Themen. Fangen wir mit dem Gedenkraum an, dort haben wir 1048 Namen zusammengetragen. Hinter jedem einzelnen verbirgt sich eine individuelle Geschichte, da sind auch noch einmal neue dazugekommen in den vergangenen Jahren. Wir haben dafür wissenschaftliche Mitarbeitende der Universität Freiburg und der Freien Universität Berlin mit Recherchen beauftragt, unter anderem auch in Washington im United States Holocaust Memorial Museum und in den Arolsen Archives in Hessen (wo sich die größte Sammlung an Dokumenten NS-Verfolgter befindet, die Red.). Der Gedenkraum ist losgelöst vom Dauerausstellungskonzept ausschließlich den verfolgten und ermordeten Freiburgerinnen und Freiburgern und den Menschen, die einen Bezug zu Freiburg hatten, vorbehalten. Bei den Recherchen und der Auswertung bereits dokumentierter Biografien sind wir auch auf "schwierige Fälle" gestoßen …

Julia Wolrab  | Foto: Rita Eggstein
Julia Wolrab Foto: Rita Eggstein

BZ: Zum Beispiel?

Beispielsweise auf einen Mann, Ernst Köberle aus Ehrenstetten, der NSDAP-Funktionär war und gleichzeitig nach Paragraf 175 als Homosexueller verfolgt und auch verurteilt wurde. Wenn sich dieser Mann das Leben genommen hat aufgrund der Verurteilung, ist er dann ein Opfer des Nationalsozialismus oder steht er eher auf der Täterseite? Deshalb funktionieren für mich diese Täter-Opfer-Kategorien nicht gut, ich spreche lieber von Verfolgten. Es ist nachvollziehbar, dass man das in der Geschichtsdidaktik braucht, um Geschichte überhaupt erzählen zu können und einen Zugang dazu zu ermöglichen, gerade auch für Menschen, die wenig Vorwissen mitbringen. Aber diese Beispiele zeigen eben, dass es nicht so einfach ist und dass wir über einzelne Fälle wirklich sehr intensiv diskutiert haben. Wir haben uns am Ende dafür entschieden, das Beispiel Ernst Köberle nicht hier im Gedenkraum mitaufzunehmen. Seine Geschichte wird aber in der App, die als Vertiefung zur Dauerausstellung aufgerufen werden kann, erzählt.

Julia Wolrab, 39, hat Geschichte, Islamwissenschaften und Public History in Freiburg und Berlin studiert. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin bei dem Verein "Gegen Vergessen – Für Demokratie". Seit Oktober 2020 ist sie wissenschaftliche Leiterin des NS-Dokumenationszentrums Freiburg, das am vergangenen Freitag eröffnet wurde.

BZ: Was ist – außer dem Gedenken – Sinn und Zweck der Einrichtung?

Das Dokuzentrum möchte ein offener Ort sein, der sich kritisch mit der Geschichte des Nationalsozialismus hier in Freiburg und der Region auseinandersetzt. Es wird eine Dauerausstellung und wechselnde Sonderausstellungen geben, um diese Geschichte zu vermitteln, um Menschen anzuregen, sich vertieft damit auseinanderzusetzen. Man kann sich hier im Haus zu Veranstaltungen treffen, Vorträge hören, zu Zeitzeugen-Gesprächen kommen, in der Bibliothek Literatur zur Thematik ausleihen. Es wird im Haus auch Angebote für Jugendliche und interessierte Gruppen geben. Und auch Workshops, zum Beispiel wie man präventiv gegen Antisemitismus aktiv sein kann.

BZ: Was will das Dokuzentrum bewirken?

Man sieht die Gewalt, die sich damals zugetragen hat und was den Menschen widerfahren ist – wie schnell ein friedliches Zusammenleben in der Gesellschaft kippen kann. Der jüngste Wahlkampf zum Beispiel ist vorwiegend auf dem Rücken der Schwächsten in der Gesellschaft ausgetragen worden, die sich am wenigsten wehren können: auf dem Rücken von Migrantinnen, Migranten, Asylsuchenden, aber auch von Menschen, die Sozialleistungen empfangen. Dahinter steckt die bekannte Sündenbock-Theorie: Wenn man sich selbst in der Gesellschaft nicht mehr verorten kann und unzufrieden ist mit dem eigenen Sein, sucht man nach Verantwortlichkeiten. Ich finde das unsäglich, es führt letztlich zu keiner Lösung. Ich sehe es auch als Teil unseres Auftrags, das aufzuzeigen. Dass man der gesellschaftlichen Entwicklung, dieser Normalisierung rassistischer, antisemitischer Aussagen auch deutlich entgegentreten und vor allen Dingen auch auf wissenschaftlicher Ebene mit Erkenntnissen reagieren muss. Denn es ist nicht nur eine Entwicklung, die wir im Kontext rechtsextremer Parteien erleben: dass mit "alternativen Fakten" gearbeitet wird; dass vorbei an der Realität krude Theorien in die Welt gesetzt werden, die verfangen, weil sie auf ein bestimmtes Gefühl bei den Menschen reagieren. Diese Vermischung von nicht-faktenbasiertem Wissen und Emotionalisierung kann gesellschaftliche Dynamiken freisetzen, die auch wieder bedingen können, dass wir in ein sehr gewaltvolles Miteinander abrutschen. Ich wünsche mir, dass dieser Ort da dagegen steuert und einen Raum schafft, sich mit dieser gesellschaftlichen Schieflage auseinandersetzen zu können. Denn Geschichte hat uns was zu sagen – es liegt an uns, ob wir zuhören oder wegschauen.

Schlagworte: Julia Wolrab, Ernst Köberle
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