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Kirche, Kühlschrank oder Kapitalismus

  • Do, 21. August 2003
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Junge Menschen in den USA, in Russland und in Deutschland erleben vieles ähnlich - manches unterschiedlich. Drei BZ-Praktikantinnen im Gespräch.

Wie verbringen Jugendliche aus Moskau ihre Freizeit? Was denken die amerikanischen Teenager über die russische Altersgenossen? Wo liegen Ähnlichkeiten, wo Unterschiede? Darüber unterhielten sich drei BZ-Praktikantinnen: Julia Golobokova, 19 Jahre, Journalistikstudentin aus Moskau, Allison Bruce, 28 Jahre, Redakteurin bei "The Post and Courier" aus Atlanta und Eva Müller, 20 Jahre, Politikstudentin aus Freiburg.

Eva: Wir schauen alle MTV, essen Pommes im McDonald's und surfen durchs Internet. Gibt es denn noch Unterschiede zwischen der russischen, deutschen und amerikanischen Jugendkultur?


Julia: Natürlich ist Moskau heute sehr europäisch. Wir haben viele Geschäfte, die es auch hier gibt, Cafés und Diskos. Aber für Jugendliche ist es meist zu teuer. Die meisten haben ein Stipendium in Höhe von 200 Rubel, also etwa sechs Euro. Nur die, die reiche Eltern haben, können jeden Tag ins Café gehen.

Eva: Sind die sechs Euro Stipendium die Unterstützung pro Tag?

Julia: (lacht) Nein, pro Monat. Und die Speisekarte im Restaurant in Moskau sieht so aus wie bei euch. Die Preise sind die gleichen. Im Restaurant essen ist also für uns Jugendliche viel zu teuer. Theater allerdings ist erschwinglich, nur finden die wenigsten jungen Leute Theater interessant. Die Schauspieler sind bei uns sowjetisch und ein bisschen kommunistisch. Die können nichts frei machen. Wir gehen lieber ins Kino und schauen westliche Filme an, aber das ist wiederum sehr teuer. Ich spreche übrigens nur von Moskau. Und Moskau ist anders als Russland. Russland ist ganz arm. Es gibt viele Städte, in denen es gar kein Kino gibt. Und auch in Moskau gibt es - wie in ganz Russland - viele Jugendliche, die in den Höfen sitzen und trinken und rauchen und sonst nichts machen. Die haben keine Initiative und keine Hoffnung. Der Alkoholkonsum ist bei uns ein großes Problem - und war es schon immer. Man darf erst mit 18 Jahren Alkohol trinken, so steht es auf dem Papier. Die Realität sieht anders aus.

Eva: Alkohol darf man hier erst ab dem 16. Lebensjahr trinken. Das erste Mal betrunken sind viele aber schon vorher. Schützen die strengen amerikanischen Gesetzte Jugendliche vor dem Alkohol?

Allison: Erlaubt ist Alkohol bei uns erst ab 21. Aber wenn Jugendliche Alkohol trinken wollen, gibt es immer einen Weg. Besonders schlimm ist, dass viele heimlich trinken und dann Auto fahren.

Eva: Und wo wird der Alkohol konsumiert? Gibt es Jugendclubs?

Allison: Wenig. Man trifft sich auf dem Parkplatz, oder nach Ladenschluss am Einkaufszentrum.

Julia: Bei uns auch, aber man trifft sich nur kurz, weil es zu kalt ist.

Eva: Worüber spricht man da, wenn man sich trifft? Redet ihr über Politik?

Julia: Weniger. Ich persönlich rede gerne über Politik, eigentlich immer. Aber ich habe nicht viele Freunde. Die meisten Leute meinen, dass ich nicht patriotisch bin, dass ich meine Heimat nicht liebe. Und wenn ich sage, dass in meinem Land viel zu ändern ist, verstehen es die Leute nicht. Die meinen ich bin zu westlich.

Eva: Bei uns ist es eher verpönt ein Patriot zu sein. Das rührt noch aus der NS-Zeit, als sich der Patriotismus von seiner ekelhaftesten Seite gezeigt hat.

Allison: Bei uns gibt es viele, die sich als Patrioten bezeichnen. Die ihre Heimat lieben, und doch etwas verändern wollen und viele machen auch was - und das ist doch patriotisch. Ich bin auch stolz Amerikanerin zu sein, obwohl ich weiß, dass wir viele Probleme haben: Krieg und Umweltzerstörung, zum Beispiel.

Eva: Sind amerikanische Jugendliche umweltbewusst?

Allison: Ja, gerade die Jugendlichen. Viele ältere Personen sagen, es sei ihr Recht Auto zu fahren und den Kühlschrank zu benutzten und viel Energie zu verbrauchen. Aber viele jüngere Leute haben ein ökologisches Bewusstsein und wissen, dass man heute was tun muss.


"Ökologie interessiert die Menschen nicht; die wollen wissen, wie sie an ihr Brot kommen." Julia Golobokova

Julia: An die Umwelt wird bei uns eigentlich fast gar nicht gedacht. Wir haben so viele andere Probleme, wir denken nicht über die Natur nach. Es ist natürlich heute besser als zu Zeiten der Kommunisten. Die Luft ist sauberer in Moskau, weil viele Werke geschlossen werden mussten, da die Wirtschaft nicht floriert. Und einige Jugendliche sind auch bei Greenpeace aktiv und in der Schule gibt es das Fach Ökologie. Aber wirklich viele Menschen interessiert es nicht, die wollen wissen, wie sie an das Brot für den nächsten Tag kommen.

Eva: Gibt es Angebote für Jugendliche in der Freizeit?

Julia: In Moskau schon, aber viele sitzen trotzdem lieber auf den Höfen rum.

Allison: Bei uns bieten die Schulen sehr viel für die Jugendlichen an.

Eva: Spielt Religion für Jugendliche in eurer Heimat eine Rolle?

Allison: Viele junge Leute gehen in die Kirche, andere leben ihren Glauben lieber zu Hause. Aber der Glaube hat in unserer Geschichte große Bedeutung. Komisch finde ich, dass man in Deutschland Kirchensteuern zahlen muss.

Julia: Bei uns ist das sehr schwer. 70 Jahre gab es keine Religion und die Kommunisten haben viele Kirchen zerstört. Die Partei hat die Religion ersetzt. Und jetzt gibt es keine Partei und keine Religion. Ich selbst gehe in die katholische Kirche, weil ich mich dort wohl fühle - nicht in die orthodoxe. Es gibt aber keinen, der mir erzählen kann, was die Kirche eigentlich ist. Uns fehlt die Tradition.

Eva: Bei uns wird seit einigen Jahren wieder richtig viel gelesen - Auslöser und Spitzenreiter bei Jugendlichen ist da Harry Potter. Wie ist das bei euch?

Julia: Bei uns wird auch sehr viel Harry Potter gelesen.

Allison: Bei uns auch.

Eva: Es gibt also Bereiche, in denen unsere Welten vergleichbar sind . . .

Julia: Es gibt aber auch Unterschiede. Hier ist man frei, und schon eure Eltern waren frei. Hier wird man von niemanden gefragt, wohin man geht und was man macht. In Russland fragt jeder jeden: Was machst du da? Wohin gehst du? Hier sind alle sicher, dass sie eine Wohnung finden, und so können sie über andere Dinge nachdenken. Sie sind hoffnungsvoll. In Russland ist man passiv, viele machen was sie wollen, weil sie nichts zu verlieren haben, sie haben keine Hoffnung, dass sich was ändert.

Eva: Ein Bereich, in dem sich hier in Deutschland in den letzten 50 Jahren viel geändert hat, ist die Sexualität. Sie wurde mehr und mehr zum öffentlichen Thema. Wie ist das bei euch?

Julia: In der Zeit von Glasnost und Perestroika gab es eine Frau, die behauptete in der Sowjetunion gäbe es kein Sex. Das ganze Land hat gelacht. Sex ist allgegenwärtig, besonders in den Medien. Weil solange darüber nicht geredet wurde, besteht ein großer Nachholbedarf.

Allison: Bei uns ist es eher ein Tabuthema, und lange nicht so offen diskutiert wie in Deutschland. Wir haben Aufklärungsunterricht in der sechsten Klasse, weil das, was Jugendliche sich gegenseitig über Sex erzählen im Unterricht richtig gestellt werden muss. Im Süden ist Sex vor der Ehe richtig verpönt.

Julia: Und was denkt man in Amerika über Russland?

Allison: Es gibt viele Vorurteile. Zum Beispiel, dass es in Russland lange Schlangen gibt, an denen man für Käse und Brot ansteht. Es gibt alte Filme in denen wird der Russe als dumm dargestellt. Aber das hat sich schon geändert.

Julia: In Russland gibt es viel Feindlichkeit gegenüber Amerika, insbesondere bei den Jugendlichen. Viele sind neidisch auf den Wohlstand in Amerika. Und alle waren gegen den Irakkrieg. Aber gegen den Krieg in der Tschetschenischen Republik protestiert niemand.

Allison: Bevor der "Eiserne Vorhang" fiel, war für uns auch Russland der Feind. Heute aber nicht mehr.

Julia: Die Leute wissen bei uns nicht, was Demokratie ist und niemand erklärt es ihnen. Sie sind orientierungslos.

Allison: Unser Kapitalismus scheint da nicht viel Orientierung zu geben, sondern eher feindlich zu wirken.

Julia: Es ist halt viel Neid vorhanden.

Allison: Je mehr der eine vom anderen weiß, desto weniger Neid exsistiert.

aufgezeichnet von Eva Müller

Ressort: Zisch

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