Geschichte ohne Sicherheitsabstand

Der Autor Klaus Kordon versteht es, historische Zusammenhänge verstehbar zu machen - in Büchern, in denen man "mitlebt".  

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Jetzt mal ehrlich: wann habt ihr zum letzten Mal richtig angeregt in eurem Geschichtsbuch gelesen? Lange her, oder? Kein Wunder, wo uns aus den Schulbüchern doch meist nur Aufzählungen von historischen Ereignissen und die dazugehörigen Jahreszahlen entgegenstarren. Was diese Zahlen und Fakten heute für uns bedeuten, können uns Geschichtsbücher und Lehrer aber nur selten erklären.

Glücklicherweise gibt es Klaus Kordon. Der schreibt seit Jahren Geschichtsbücher der anderen Sorte: Mit Büchern wie "Die roten Matrosen", "Paule Glück" oder zuletzt "Krokodil im Nacken" hat er wissbegierigen Lesern ganz unterschiedliche Epochen der Geschichte näher gebracht. Nun ist "Julians Bruder" erschienen, Klaus Kordons neuestes Werk, und er ist damit auf Lesereise gegangen. Auch in Freiburg machte er Station und las vor ausverkauftem Saal in der Rombach Buchhandlung aus "Julians Bruder", in dem es - wie in einigen anderen seiner Bücher auch schon - um die Zeit des Nationalsozialismus geht.

Die Freunde Julian und Paul, beide im Jahr 1928 geboren und zusammen in Berlin aufgewachsen, sind unzertrennlich. So unzertrennlich, dass man sie für Brüder halten könnte. Zusammen mit Pauls jüngerer Schwester Bille genießen sie nur für kurze Zeit eine unbeschwerte Kindheit. Denn schon in der Grundschule bricht der Nationalsozialismus in ihr Leben ein und offenbart eine Differenz zwischen Julian Sternberg und Paul Scholz, von der die beiden bisher selbst nichts wussten: Julian ist seiner Abstammung zufolge Jude - obwohl er christlich getauft ist.

Immer öfter bekommt Julian die Diskriminierung zu spüren, erst durch den Lehrer, dann durch Gleichaltrige. Julian muss den Davidsstern auf der Jacke tragen, als Jude hat er immer weniger Rechte, darf irgendwann nicht einmal mehr in die Schule gehen. Zum Glück halten Paul und Bille zu ihm: sie treffen sich weiterhin mit Julian und ersinnen immer neue Wege, ihm das Leben leichter zu machen. Bille und Julian werden sogar ein Paar. Doch die offene Judenfeindlichkeit in Deutschland erschwert ihre Freundschaft immer mehr.

Und es kommt noch schlimmer: eines Tages kommt Julian nach Hause und muss entdecken, dass seine Eltern ins Konzentrationslager deportiert worden sind. Auch ihn hätte es getroffen - er muss also untertauchen. Doch bei wem kann er Zuflucht suchen, da doch jedem, der einen Juden bei sich versteckt hält, ebenfalls das Lager droht? Es beginnt eine Odyssee: drei Jahre lang lebt Julian abwechselnd bei wohlmeinenden Bekannten, bei Pauls und Billes Familie und in den Ruinen des zerbombten Berlin. Dass er den Krieg überlebt, scheint wie ein Wunder. Auch während seiner Zeit als Untergetauchter reißt der Kontakt zu Paul und Bille nicht ab und schließlich können die drei das Kriegsende gemeinsam feiern.

"Unsere Jugend ist versaut", stellt Bille da ganz sachlich fest. Der Krieg ist vorbei, doch die meisten Menschen in Berlin stehen vor dem Nichts. Dennoch scheint es zunächst, als könne für die drei Freunde alles wieder gut werden. Der erste halbwegs friedliche Sommer seit langem beginnt. Doch Julian muss erfahren, dass seine Eltern im KZ umgekommen sind. Und noch viel Unbegreiflicheres geschieht: als Paul und Julian in dem Versuch, Bille zu helfen, in eine Schlägerei mit russischen Soldaten verwickelt werden, nimmt man sie fest und bringt sie als "Nazis" in ein sowjetisches Internierungslager - ironischerweise ist es das frühere Konzentrationslager Buchenwald.

"Ich bin ein Kind der deutschen Geschichte." Klaus Kordon, Autor

In Buchenwald sind Julian und Paul dem Hunger, der Kälte und der qualvollen Langeweile ausgeliefert - zusammen mit vielen anderen, die wie sie aus geringen Gründen oder ganz ohne Gründe und völlig willkürlich verhaftet worden sind. Für sie alle sind die Strapazen des Krieges noch lange nicht vorbei. Es sind trostlose Aussichten für Paul und Julian.

Etwa ein Jahr lang habe er recherchiert, sagt Klaus Kordon, um den historischen Hintergrund des Buches aufbauen zu können und unterschiedliche Einzelschicksale kennen zu lernen: "Wenn man sich mit den Fakten beschäftigt, dann kann man immer wieder nur Luft holen und staunen." Recherche bedeutet für Klaus Kordon eben nicht nur Bücher wälzen: er hat Zeitzeugen gesucht, um aus ihren Berichten mehr über das Berlin zwischen den Kriegen, das Leben während des Krieges und vor allem über die sowjetischen Internierungslager herauszufinden. "Eigentlich wollte ich ja nicht mehr über die NS-Zeit schreiben", sagt Kordon. Immerhin hat er sich schon in mehreren Büchern mit dieser Epoche befasst. Doch dann habe er einen Anruf bekommen - von einem Mann, der ihm von einem jüdischen Einzelschicksal, von den Internierungslagern und von den unzähligen unschuldig Inhaftierten erzählt habe. Das Einzelschicksal hat er recherchiert, aber auch das Schicksal der vielen: "Was waren das für Leute, die da in den Lagern verschwunden sind?" Und da war es geschehen - Klaus Kordons Neugierde hatte ihn zu einer neuen Geschichte geführt und ihn schließlich bewegt, doch ein Buch darüber zu schreiben. Und zwar eins mit 800 Seiten!

Ja, und warum werden uns Klaus Kordons Bücher - mögen es noch so dicke Schinken sein - beim Lesen nicht langweilig? Es muss an den Romanfiguren liegen. "Natürlich braucht man Fakten", sagt Kordon, "ohne die kann man kein Buch schreiben. Aber das Wichtigste ist, dass die Figuren stimmen. Paul und Julian könnte es wirklich gegeben haben." Die Charaktere muss er nicht lange planen, die tauchen irgendwann auf, wenn er beim Recherchieren ist.

Auf die Publikumsfrage, ob er mit seinen Romanhelden leide, muss er nicht lange überlegen: das teils harte Schicksal der Figuren nehme ihn durchaus mit, genauso wie er sich für sie freue, wenn sie Glück im Leben haben. Und genauso werden auch den Lesern die Protagonisten aus Kordons Romanen bald zu Freunden. Sie sind es, die diese Bücher so sympathisch, so spannend, so anschaulich machen. "Geschichte" ist auf einmal nichts Abstraktes mehr, sondern etwas, das man sich vorstellen kann: "Wie ging es Paul und Julian damals?" als Chiffre für: "Was war da gerade los in Deutschland?" Und unter anderem das möchte der Autor erreichen: seinen Lesern das Leben in einer Zeit oder in einer Gesellschaft nahe bringen, das sie nicht aus eigener Erfahrung kennen. Nach dem Lesen werden einige das Gefühl haben, sie seien dabei gewesen.

Doch welche Bedeutung haben geschichtliche Ereignisse, die lange vor uns stattgefunden haben für uns - so wie die Deutsche Revolution 1848, die Klaus Kordons Romanhelden Jette und Frieder miterleben? "Ich bin ein Kind der deutschen Geschichte", sagt der Autor - und eben nicht nur er: mit uns allen hat die Vergangenheit Deutschlands direkt zu tun. Wären bestimmte Dinge nicht geschehen, sähe die Welt heute anders aus. Das leuchtet ein - und es heißt auch: wenn unsere Urgroßeltern bestimmte Dinge nicht erlebt hätten, sähe die Geschichte unserer Familien anders aus, womöglich hätte es uns gar nicht gegeben.

In der Revolution 1848 sei das deutsche Volk "zum ersten Mal auf die Barrikaden gegangen", die Grundsteinlegung für einen demokratischen Staat also: das ist es beispielsweise, was Kordon an diesem Thema fasziniert. "Geschichte ist wie eine Mauer, Stein auf Stein", sagt er. Alles hat einen Grund, und alles hat Konsequenzen - und aus dieser Folge wird dann "Geschichte".

Hat man eins von Klaus Kordons Büchern gelesen, ist man nicht nur um ein Stück Geschichte und eine Menge Geschichten reicher, sondern auch um Verständnis für historische Zusammenhänge. Ein irres Gefühl, wenn man auf einmal versteht, was im Geschichtsbuch steht! Romane wie "Julians Bruder" haben den Effekt auf uns, von dem viele Lehrer nur träumen können: es bleibt was hängen. Das nächste Buch kommt übrigens im Herbst 2006 und spielt während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71. Noch nie davon gehört? Wartet's ab!

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