Zischup-Interview
Eine Russin über den Ukraine-Krieg: "Nie geglaubt, dass es so weit kommt"
J.S. lebt seit Jahren in Deutschland und stammt aus Russland. Der Krieg in der Ukraine ist für sie nur schwer zu ertragen, erzählt sie im Interview. Sie hat Angst vor Anfeindungen.
Anna-Maria Siepe, Klasse 8a, St.-Ursula-Gymnasium (Freiburg)
Do, 28. Apr 2022, 16:23 Uhr
Schülertexte
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Die Assistenzärztin J. S.* (32) kommt ursprünglich aus Russland. Sie lebt heute in Deutschland und ist angehende Kardiologin im sechsten Ausbildungsjahr. Wie S. die momentane Kriegssituation in der Ukraine empfindet, hat sie Anna-Maria Siepe aus der Klasse 8a des St.-Ursula-Gymnasiums in Freiburg im Interview erzählt. (*Name der Redaktion bekannt. J. S. wollte wegen möglicher Anfeindungen ihr gegenüber lieber anonym bleiben.)
Zischup: Wohnen Sie schon immer in Deutschland, oder sind Sie in Russland aufgewachsen?
S.: Ich bin ich Russland aufgewachsen. Mit 23 Jahren bin ich nach Deutschland gezogen, da ich meinen deutschen Freund kennengelernt hatte. Ich habe auch Verwandte in Deutschland, die während des Zweiten Weltkrieges nach Russland geflohen und in den 1990er Jahren nach Deutschland ausgewandert sind.
Zischup: Haben Sie noch Verwandte oder Freunde in Russland?
S.: Meine ganze engere Familie wohnt noch in Russland – unter anderem meine Mutter, meine große Schwester mit ihrer Familie, meine Tanten und Onkel. Mein Vater ist leider vor ein paar Jahren verstorben.
S.: Ich hätte wirklich nie geglaubt, dass es zu einem Krieg zwischen Russland und der Ukraine kommen könnte. Ich habe immer nur gedacht, dass Wladimir Putin den Menschen droht, indem er Waffen an die Grenzen der Ukraine stellt. Die Mehrheit der Russen wollte keinen Krieg. Die Russen und die Ukrainer sind eigentlich wie Brüder und Schwestern. Was jetzt passiert ist, ist für mich ein Schock.
Zischup: Wissen die Menschen in Russland über den Krieg Bescheid?
S.: Die Mehrheit der Russen weiß über den Krieg Bescheid, obwohl die Nachrichten in Russland stark zensiert werden. Wladimir Putin hat verboten, das Wort "Krieg" zu benutzen. Alle Kanäle und Youtube-Videos, die über den Krieg erzählen, wurden gesperrt beziehungsweise gelöscht. Trotzdem gibt es Möglichkeiten, wie man an Informationen kommen kann.
Zischup: Merkt das russische Volk die Sanktionen im Alltag?
S.: Auf jeden Fall. Vergangene Woche erzählte mir meine Mutter, dass Grundnahrungsmittel doppelt so teuer sind und vieles ausverkauft ist. Die Sanktionen führen nicht nur zu höheren Preisen, sondern schränken auch die Freiheit stark ein. Ich habe zum Beispiel momentan durch die Sperrung des Luftraums über Russland keine Möglichkeit, meine Mutter zu besuchen. Ich habe mit dem Krieg nichts zu tun, trotzdem trifft es mich und meine Familie.
S.: Ich spreche vor allem mit meiner Mutter darüber. Generell wird in Russland nicht gerne über den Krieg gesprochen; vor allem haben die Leute Angst, über das Telefon abgehört zu werden. Viele, die auf die Straße gehen, werden festgenommen, von der Polizei verprügelt oder bestraft. Die Regeln sind so hart, die Menschen Angst haben zu protestieren.
Zischup: Gibt es in der russischen Bevölkerung viel Unterstützung für Putins Politik?
S.: Ich denke, seit der Krieg anfing, hat Putin sehr viele Unterstützer verloren. Meiner Einschätzung nach ist die überwiegende Mehrheit der Russen gegen seine Politik. Auch Soldaten möchten nicht in der Ukraine kämpfen, doch es wird ein starker Druck der Regierung auf die Leute ausgeübt. Die, die ihn immer noch unterstützen, sind wahrscheinlich Angehörige oder Machthaber, die von dem System profitieren.
Zischup: Was sind Ihrer Ansicht nach Beweggründe für Wladimir Putin?
S.: Wenn ich das wüsste. Ich glaube, das kann keiner richtig beantworten. Es gibt den Gedanken, dass Wladimir Putin Russland und die Ukraine vereinen möchte. Der zweite Gedanke ist, dass er Angst vor einem Eintritt der Ukraine in die Nato hat und somit der Westen noch näher an Russland käme und die Nato seine militärische Aufrüstung abstellen könnte.
Zischup: Glauben Sie, dass die Nato und unsere Regierung vorher und jetzt richtig handeln beziehungsweise handelten?
S.: Die westlichen Nationen unterstützen die Ukraine, indem sie Waffen zum Widerstand liefern. Ich würde mir wünschen, dass man noch aggressiver vorgeht. Vielleicht sind die Sanktionen nicht ausreichend. Die Sanktionen treffen die Bevölkerung, aber Putin selber nicht. Ich finde, Putin sollte spüren, dass er falsch handelt. Das, was wir machen, ist in meinen Augen eine halbe Sache.
S.: Nein, nicht direkt. Man hat mich immer gefragt, wie ich die Situation empfinde. In den Medien wird richtig dargestellt, dass es nicht ein Krieg von Russland ist, sondern von Putin.
Zischup: Haben Sie Ideen dafür, wie man vielleicht aus dieser Krise herauskommen kann?
S.: Man könnte versuchen, einen Kompromiss zu erzielen, dass die Ukraine neutral bleibt. Eigentlich muss Putin akzeptieren, dass die Ukraine ein freies Land sein möchte. Er sollte verstehen, dass er eine falsche Entscheidung getroffen hat.
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