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Welthungerindex 2021

Die Hungersnöte sind zurück

Der Welthungerindex dokumentiert das Leid von Millionen Menschen. Er zeigt außerdem, dass aus dem UN-Ziel, bis zum Jahr 2030 den Hunger zu besiegen, nichts wird. Im Gegenteil – der Hunger wird mehr.  

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Machen nicht satt: Wassermelonenkerne. Foto: Fenoarisoa Ralaiharinony (dpa)
Ein Ende des Hungers in der Welt rückt in weite Ferne. Die wichtigsten Gründe dafür sind Konflikte und der Klimawandel – aber auch die Corona-Pandemie hat die Situation verschärft. Das Beispiel Afghanistan zeigt, wie schwierig Lösungen zu finden sind.

Kriegerische Konflikte und die Folgen des Klimawandels haben den Hunger in der Welt im vergangenen Jahr weiter verschärft. Weltweit hungern nun etwa 811 Millionen Menschen, während es 2019 noch 690 Millionen Menschen waren, stellt der am Donnerstag in Berlin veröffentlichte Welthungerindex 2021 fest. "Das hat unsere ärgsten Befürchtungen im vergangenen Jahr bestätigt", sagte Marlehn Thieme, Präsidentin der Welthungerhilfe. Der Befund der Organisation: "Die Welt ist bei der Hungerbekämpfung vom Kurs abgekommen und entfernt sich immer weiter vom verbindlichen Ziel, den Hunger bis 2030 zu besiegen." Auch die Corona-Pandemie hat die Lage weiter verschlimmert.

128 Länder untersucht

Der neue Welthungerindex untersucht die Ernährungslage in 128 Ländern und bestätigt "die deutlichen Rückschritte bei der Hungerbekämpfung". 47 Länder werden demnach bis 2030 noch nicht einmal ein niedriges Hungerniveau erreichen, 28 davon liegen in Afrika südlich der Sahara.

Besonders dramatisch sei die Lage in Somalia, Jemen, Afghanistan, Madagaskar und dem Südsudan. In Somalia – dem Schlusslicht dieser Länder – sind 60 Prozent der Menschen unterernährt und leben in einem Zustand ohne Ernährungssicherheit.

Für den Index werden vier Kriterien untersucht:
  • der Anteil der Unterernährten an der Bevölkerung
  • der Anteil von Kindern unter fünf Jahren, die an Auszehrung und Untergewicht leiden
  • der Anteil von Kindern unter fünf Jahren, die aufgrund von Mangelernährung wachstumsverzögert sind
  • die Kindersterblichkeit.

Hintergrund: Die Daten des Welthunger-Index

Der seit 2006 jährlich veröffentlichte Welthunger-Index (WHI) dient der Erfassung der Hungersituation auf globaler, regionaler und nationaler Ebene. Die Werte für die einzelnen Länder basieren im Wesentlichen auf Daten zur Unterernährung in der Bevölkerung sowie zu Wachstumsverzögerungen, Auszehrungserscheinungen als Beleg für akute Unterernährung und zur Sterblichkeitsrate von Kindern unter fünf Jahren.

Der WHI-Wert bildet die Hungerlage auf einer Skala von null Punkten (gar kein Hunger) bis 100 Punkten ab. Die Einstufungen gehen von niedrig (bis 9,9 Punkte) über mäßig (10 bis 19,9 Punkte), ernst (20 bis 34,9 Punkte), sehr ernst (35 bis 49,9 Punkte) bis zu gravierend (50 Punkte und mehr).



Der Index wurde vom Internationalen Forschungsinstitut für Ernährungspolitik (IFPRI) in Washington im Auftrag der Deutschen Welthungerhilfe entwickelt. Die Daten stammen unter anderem von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) und von der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Als Hunger wird allgemein das Leid bezeichnet, das durch einen Mangel an Kalorien entsteht. Laut FAO ist Unterernährung die stetige Aufnahme von zu wenig Kalorien, um das Minimum an Nahrungsenergie zu liefern, das jeder Mensch abhängig von Geschlecht, Alter, Statur und körperlicher Aktivität für ein gesundes und produktives Leben benötigt. epd

"Unsere Befürchtungen im letzten Jahr haben sich leider bestätigt. Hungersnöte sind zurück und multiple Krisen lassen die Zahl der Hungernden immer weiter steigen", so Thieme. "Die Corona-Pandemie hat die angespannte Ernährungslage in vielen Ländern des Südens noch einmal verschärft und Millionen Familien haben ihre Existenzgrundlage verloren. Die größten Hungertreiber bleiben aber Konflikte und der Klimawandel."

Zu den Staaten, in denen die Bevölkerung besonders gefährdet ist, gehört auch Afghanistan. Dort haben jüngst die militant-islamistischen Taliban die Macht übernommen, nachdem die Nato ihren Einsatz dort nach fast 20 Jahren auf Drängen der USA kurzfristig beendet hat. In Afghanistan sei mehr als die Hälfte der Einwohner auf humanitäre Hilfe angewiesen und jeder dritte Mensch gehe dort täglich hungrig ins Bett, sagte Mathias Mogge, Generalsekretär der Welthungerhilfe. "Jahrzehntelanger Bürgerkrieg, Korruption, Dürren und Überschwemmungen als Folge des Klimawandels sowie die Auswirkungen der Corona-Pandemie haben Afghanistan an den Abgrund geführt", sagte er. Die Welthungerhilfe setze ihre Arbeit unter schwierigen Bedingungen fort.

Der Einsatz deutscher Soldaten und Entwicklungshelfer in Afghanistan hatte in den vergangenen 20 Jahren mehr als 17,3 Milliarden Euro gekostet. Den weitaus größten Posten machte dabei das Militär aus. Das Auswärtige Amt gab demnach rund 2,48 Milliarden Euro für sogenannte projektbezogene Personal- und Sachkosten aus. Das Entwicklungsministerium stellte binnen 20 Jahren rund 2,46 Milliarden Euro in Afghanistan zur Verfügung. Weiterhin soll Nothilfe geleistet werden. Eine Aufnahme der Entwicklungszusammenarbeit hängt davon ab, wie sich die Taliban verhalten.

"Die politischen Forderungen, die wir mit dem diesjährigen globalen Hungerindex verbinden, sind: Wir brauchen eine integrierte, flexible, eine sektorübergreifende und mehrjährige finanzielle Unterstützung", sagte Mogge zum weltweiten Engagement. "Und wir müssen anerkennen, dass Ernährung und Frieden Hand in Hand gehen."
Madagaskar trocknet aus – und hungert

Kaktusblätter, mit dem Messer von den Stacheln befreit und kurz angedünstet: Das ist alles, was Bole ihren drei Kindern schon seit Monaten zu essen bieten kann. Ihr Mann sei kürzlich gestorben, genau wie ihre Nachbarn, um deren zwei Kinder sie sich jetzt auch noch kümmert. "Was soll ich sagen?", fragt die kaum 30-jährige Mutter ein Team des Welternährungsprogramms (WFP): "Wir sind den ganzen Tag damit beschäftigt, noch irgendwo Kaktusblätter zu finden, Tag für Tag und Woche für Woche."

Der Boden im Dorf Fandiova im Süden Madagaskars ist zu feinem Staub zerbröselt: Bäche und Seen sind ausgetrocknet, Kühe und Ziegen gestorben, die Menschen versuchen sich außer mit Kaktusblättern mit Heuschrecken oder mit Tamarindensaft und sogar mit Lehm über Wasser zu halten. Kinder gehen längst nicht mehr zur Schule, weil sie bei der Nahrungssuche helfen müssen. Und manche Familien würden ihre Mädchen zur Heirat verkaufen, um so zu etwas Geld zu kommen und einen Magen weniger füllen zu müssen, berichtet Mialy Radrianasolo von Unicef.

Zuletzt soll es zu Beginn der 60er-Jahre eine ähnlich lange und schwere Dürre gegeben haben. Nach WFP-Erhebungen sind bereits 1,14 Millionen Madagassen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen, mehr als 135.000 Kinder sollen akut unterernährt sein. Falls der Regen auch im kommenden halben Jahr ausbleibt, werde eine weitere halbe Million Kinder Hunger leiden, sagt WFP-Sprecherin Alice Rahmoun: "Dann droht 28.000 Menschen der Hungertod".

Schon heute leidet die Hälfte aller madagassischen Kinder wegen Unterernährung an Entwicklungsstörungen. Fachleute nennen die sich anbahnende Katastrophe "die erste von der Klimaerhitzung erzeugte Hungersnot". Tatsächlich sind Dürren hier nicht ungewöhnlich: Doch so hartnäckig wie diesmal blieb der Regen auf der Insel bislang nicht aus. Eine Folge der Erwärmung der Meere, ist der US-Klimaforscher Chris Funk überzeugt. Das hohe Bevölkerungswachstum sowie die Entwaldung der Inseln verschlimmern die Situation. Kurzfristig könne dem ausbleibenden Regen nur mit einer verbesserten Nutzung des Niederschlags begegnet werden, sagen Experten: Das wenige Regenwasser müsse gesammelt und in Reservoiren aufbewahrt werden. Kein wirklicher Trost für die über eine Millionen Madagassen, die schon heute Hunger leiden. Sie sind auf Hilfe aus dem Ausland angewiesen – und darauf, dass Regen fällt. Johannes Dieterich

Ressort: Ausland

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Fr, 15. Oktober 2021: PDF-Version herunterladen

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