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"Die Angst muss produktiv werden"

JUZ-INTERVIEW mit dem Freiburger Medientheoretiker Klaus Theweleit über die Nachwirkungen der Gewalttat in Erfurt.  

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Der Freiburger Schriftsteller Klaus Theweleit forscht und publiziert seit vielen Jahren über Gewalt und Medien. Für die JuZ sprach Martin Müller mit ihm über die Gewalttat eines Schülers am Erfurter Gutenberg-Gymnasium - und den Widerhall darauf in den Schulen, der Öffentlichkeit und in den Medien.

JuZ: Seit dem Anschlag wird viel um Sportschützen und Computerspiele debattiert. War Erfurt nicht einfach nur Schicksal?
Klaus Theweleit: Mit "Schicksal" kann ich nichts anfangen. Mit Zufall eher. Es kann überall passieren und es passiert ja auch jedes Jahr überall irgendwo in einem Land.
JuZ: Wenn es Littleton nicht gegeben hätte, wäre uns dann Erfurt erspart geblieben?
Theweleit: Man kann nicht alles auf Nachahmung schieben. Auch nicht auf Gewaltvideos und ähnliche Dinge. Welche Gewaltvideos haben die Täter von Auschwitz nachgeahmt? Die haben agiert aufgrund von eigenen Körperzuständen und Aufhetzung durch Reden, Bücher und Zeitungen. Trotzdem wollte niemand das Alphabet verbieten lassen. Vorlagen zu Nachahmung gibt es immer. Die Geschichte ist voll von Morden und Massakern. Nachahmung ist ein Thema - aber die ganze Welt kann dazu taugen.

Auf einem bestimmtem Gebiet mit Verboten einzuschreiten, wäre also vollkommen albern. Genauso wie die Videos könnte man zum Beispiel die Fernsehwerbung nennen, die einem vorspiegelt, dass Reichtum und Glück mit geringem Aufwand zu bekommen sind. Das erzeugt Druck, weil man an die schicken Sachen nicht rankommt. Wenn man dem nicht standhalten kann, isoliert ist und keine Freundesgruppe hat, die das auffängt, liegen Verzweiflungstaten immer im Bereich des Möglichen. Vor allem wenn eine viel versprechende Lebensaussicht fehlt.
JuZ: Wessen Aufgabe ist es nun, die Situation nach Erfurt wieder zu normalisieren?
Theweleit: An erster Stelle wohl die der Familien und der Schulen. Die meisten Eltern und Lehrer geben sich dabei auch viel Mühe, sonst wäre viel mehr Gewalt da. Lehrer sind aber oft überfordert, auch durch zu große Klassen. Und Mitschüler trampeln oft auf den anderen herum - im Konkurrenzladen Schule. Und das geht nicht an jedem spurlos vorbei.
JuZ: Führt eine militärisch unterstützte Außenpolitik zu einer Erhöhung des Gewaltpotenzials in der Gesellschaft?
Theweleit: Jede technisierte Gesellschaft hat ein hohes Gewaltpotenzial, das steckt in der gesellschaftlichen Maschinerie. Da haben viele das Gefühl, sie fliegen raus und kommen nicht mehr mit. Man kann nicht so tun, als würde es diese Gewalt in der Gesellschaft nicht geben. Offizielle Kriege erhöhen in der Regel die Gewaltbereitschaft, das muss aber nichts mit solchen Taten zu tun haben. Wenn jetzt Politiker eine Verschärfung der Waffengesetzte fordern, führt das zu nichts. Mehr als 90 Prozent aller solcher Taten werden mit illegalen Waffen durchgeführt, wie will man diesen Waffenmarkt kontrollieren? Und ist es nicht so, dass Politiker gern Spenden von Waffenhändlern nehmen? Es werden im Moment also Scheinakte propagiert.
JuZ: Gilt das auch für ein Verbot von Gewalt im Fernsehen?
Theweleit: Ja, natürlich sollte man da Gewalt herabsetzen, aber nicht weil sie Jugendliche zu solchen Taten verleitet, sondern weil es einfach dumme Filme sind. Die Gewalt liegt im Ästhetischen dieser Filme. Für mich ist es auch Gewalt, wenn Politiker im Fernsehen lügen und fast jedes Versprechen brechen. Auf der Ebene von Verboten hätten Politiker genug mit sich selbst zu tun.
JuZ: Warum gibt es eigentlich keine Amokläuferinnen?
Theweleit: Es gibt keine offizielle weibliche Kultur der Gewalt. Bei den Männern gibt es die - Militär, Kämpfe zwischen Jugendbanden oder Sportarten, die auf körperlichem Wettkampf beruhen, "den anderen vernichten". Die Gewaltausübung bei Frauen ist indirekter, sie reagieren unter Druck eher depressiv, Männer aggressiv.
JuZ: Müssen die Medien über solche Ereignisse mit kritischer Distanz berichten?
Theweleit: Müssen sie nicht, tun sie auch nicht. Es gibt eine Art der Berichterstattung, die haut deutlich in die Kerbe "Nachahmung" und führt alle anderen Taten auf, die schon passiert sind. Da kann sich jemand, der sowieso schon auf dieser Schiene liegt, einreihen als nächster "Held". Auch Schuldzuweisungen sind nur Stimmungsmache. Angemessen wäre es etwa, zu thematisieren, in welchem Bewusstsein Lehrer handeln, die einen Schüler in der 13. Klasse von der Schule werfen - ohne Abschluss und ohne weitere Sicherung.


"Jetzt fordern Politiker schnelle Gesetze, aber keiner redet über zu große Klassen." Klaus Theweleit (Schriftsteller)

JuZ: Scheuen sich jetzt Lehrer vielleicht eher davor, jemanden von der Schule zu verweisen?
Theweleit: Die sollten sich immer davor scheuen und es sehr gut überlegen. Und Schulklassen müssen auch immer überlegen, ob es unter ihnen jemanden gibt, den sie an den Rand drängen. Damit niemand mit der Phantasie nach Hause geht, diese ganze Schule zum Mond zu schicken.
JuZ: Wie kann man verhindern, dass der Lehrer zum Todfeind wird?
Theweleit: Das kann der Lehrer selber verhindern, aber auch die Schüler unter sich. Und die Behörden: es gibt noch immer wenig Kooperationsmodelle und Gruppenarbeit im deutschen Schulsystem. Aber Einzelkämpfertum ist eine Art Krieg - und nicht demokratisch.
JuZ: Entwickelt sich jetzt eine größere Distanz zwischen Lehrern und Schülern?
Theweleit: Im Prinzip sehe ich keinen Grund dafür. Der Schock hat alle erreicht, das kann öffnen.
JuZ: Wie kann man Lehrern und Schülern Vertrauen und Sicherheit wiedergeben?
Theweleit: Das kann man so schnell nicht, denn die Sache sitzt tief. Viele haben vielleicht ähnliche Phantasien, wenn sie Probleme haben, die wissen aber, dass das Phantasien sind. Trotzdem gibt's da so eine Unsicherheit - bin ich auch so ein Gewalttyp?
JuZ: Inwieweit könnte sich - mit Blick auf Erfurt - in der Ausbildung von Pädagogen etwas ändern?
Theweleit: Ich glaube nicht, dass die Pädagogenausbildung schlecht ist. Ich höre nur immer von Politikern Empfehlungen und Schnellmaßnahmen, doch auf der anderen Seite werden ständig Gelder gekürzt. Statt Videospiele zu verbieten, müssten mehr Computer in die Schulen, Gruppenkommunikation und Netzwerke gefördert werden. Politiker wundern sich über Gewalt und fordern schnelle Gesetze. Wenn sie aber gleichzeitig sagen, dass Klassenstärke nichts mit den Leistungen der Schüler zu tun habe, dann ist das auch Gewalt. Auf deutlich erkennbare Probleme wird überhaupt nicht reagiert. Politiker haben kein Recht, sich über Gewalttaten auszulassen und sich zu beschweren, denn sie erzeugen so etwas selbst mit.
JuZ: Besteht für Schüler und Lehrer an ihrem Arbeitsplatz jetzt eine ganz konkrete Bedrohung?
Theweleit: Ja, zumindest in der Vorstellung besteht diese Bedrohung ganz bestimmt. Und das auch zu Recht. Die Möglichkeit, dass die Tür aufgeht und dort steht nicht der Schüler der zu spät kommt, sondern jemand der etwas anderes im Schilde führt, ist prinzipiell da. Und deshalb ist es auch berechtigt, für jeden eine individuelle Angst zu haben. Solche Ängste können aber auch produktiv sein. Die Leute in den Schulen werden schon genauer schauen, wie es eigentlich in der eigenen Umgebung aussieht. Und vielleicht manches Problem besser erkennen.

Ressort: Zisch

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