Die Folgen von Jugendgewalt
Der Stich
Ein 16-Jähriger wird niedergestochen, er überlebt – aber er und seine Familie haben bis heute zu kämpfen: Eine Geschichte über die Folgen von Jugendgewalt.
Johannes Gernert
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Wilhelmshaven, Samstagnachmittag, 27. April 2011. Ein merkwürdig heißer Frühlingstag. Sie wollten zum See. Und dann hält doch einer, Onkel Ralle, sein Onkel, der zufällig vorbeigefahren ist gerade. Er nimmt ein T-Shirt, presst es darauf, nimmt einen Gürtel, zieht zu. Ralle ruft den Vater an: "Dein Sohn liegt hier. Die haben deinen Sohn abgestochen." Und dann fährt die Mutter los, Richtung Krankenhaus, sie schreit: "Lieber Gott, mach, dass nichts Schlimmes passiert ist." Die haben deinen Sohn abgestochen. Lieber Gott, mach, dass nichts Schlimmes passiert ist. Lass mir mein Baby. Bitte.
"Mama, bleib hier", ruft Marc im OP, Ärzte, Schwestern, Kittel, Blutkonserven. "Ich verlass dich nicht", sagt Manuela Wilkens. So fängt das alles an.
Die Straße von Wilhelmshaven, in der Manuela Wilkens, ihr Mann und ihr Sohn Marc ein Jahr später immer noch wohnen, ist backsteinrot, Klinkerfassaden, rechteckige, geordnete Ziegel. Eine Decke aus Wolken drückt an diesem Nachmittag auf die Nordsee, auf die Stadt, auf ihre 80 000 Einwohner, viele alt, viele ohne Arbeit. Manuela Wilkens hat den Lärm des Flachbildfernsehers weggedrückt, ihr Mann hat Atze rausgebracht, die knurrende Bulldogge. Der Papagei fiept im Käfig. Die Mutter, ihre zwei Söhne, ihre Tochter, ihr Mann, die Freundin des Ältesten, ein Freund von Marc, sie drängen sich auf den schwarzen Ledersofas. Volles Wohnzimmer. "Wir dachten, wir kommen mal alle", sagt Manuela Wilkens, "um davon zu erzählen." Und dann erzählen sie von diesem Tag und den Folgen. Manuela Wilkens’ Mann, der Mechaniker, laut und norddeutsch. Dann Manuela Wilkens, dann manchmal alle. Was sie sagen, deckt sich mit der Aussage einer Zeugin bei der Polizei, die sich in der Ermittlungsakte findet. Marc, 17 Jahre jetzt, sitzt still da. Sein Gesicht ist schmal und ein wenig bleich. Die Haare stehen hoch, ein bisschen wie beim frühen David Bowie.
Vor einem Jahr hat der eine ihn festgehalten, der andere hat zugestochen. Sie haben nur einen Spaziergang mit dem Hund entfernt gewohnt, die beiden damals. Seitdem spürt die Familie diesen Stich, fünf Zentimeter lang, viel zu tief. Und seitdem fragen sie sich: Wie hört das wieder auf? "Es soll jetzt alles nur noch vorbei sein", sagt Manuela Wilkens. Seit einigen Wochen gibt es das, worauf sie so lange gewartet haben: einen Gerichtstermin. 18. Juli 2012. Sie hoffen, dass ein Urteil ihnen hilft, als Familie, damit der Stich besser heilt. Sie haben viel mehr darauf gehofft, als es den Termin noch nicht gab. Aber je näher er rückt, desto weniger stark wirkt er auf sie.
Der Stich in die Hüfte von Manuela Wilkens Sohn hat kaum Schlagzeilen gemacht. Es gab einen kurzen Bericht in der Nordwest Zeitung. Marc hat viel Blut verloren, saß im Rollstuhl, aber bald war klar, dass er wieder würde laufen können. Marc lebt. Und wenn man ihn da sitzen sieht, einen Teenager, der schon etwas überleben musste, dann fragt man sich, wie er und seine Familie lernen können, mit diesem Stich zu leben? Und wie ihnen der Staat, seine Justiz, dabei helfen kann?
An jenem 27. April spricht sich alles schnell herum, Wilhelmshaven ist keine Großstadt, Facebook macht es zum Dorf. Marcs Freunde verhauen die beiden, bevor die Polizei sie festnimmt. Als Marc nach einigen Tagen aus dem Krankenhaus nach Hause kommt, schließt er sich nachts in seinem Zimmer ein. Er kann nicht schlafen. Er wacht schwitzend auf. Er stellt sich vor, wie es wäre, denen eine reinzuhauen. Auf der Straße dreht er sich oft um. War da jemand? Ein Arzt schreibt ihn krank – wegen der physischen und psychischen Folgen. Eigentlich wollte er seinen Hauptschulabschluss machen, einen guten, damit er dann den Realschulabschluss schafft. Er säuft, er schreit seine Eltern an. Die wissen nicht, was davon die Pubertät macht und was der Stich. Er ist jetzt ein Opfer.
Marc hört ähnlichen Rap wie der Typ, der zugestochen hat. Der schreibt Kommentare auf Facebook-Seiten von Rappern mit rasierten Schädeln, die manchmal von Recht und Gesetz erzählen. Sie spucken die Begriffe wie Schimpfwörter auf den Asphalt. Recht, Gesetz. Opfer.
Am 2. Mai 2011, fünf Tage nach dem Stich, beginnt der Staat mit der Aufarbeitung der Tat. Am Vormittag befragt eine Kommissarin den Jungen, der zugestochen hat. Er ist 15, er hat schon eine Akte. Ladendiebstähle, Nötigung, Beleidigung. Er sagt, dass Marc ihn Hurensohn genannt hat. Dass er nicht mit einem Messer, sondern mit einer Schere zugestochen habe, einer halben, die er gefunden habe. Wie er zu seiner Tat stehe, fragt die Kommissarin. "Ich finde das okay."
Man fragt sich, woraus diese verstörende Kälte erwächst. Und kann das Julia Meunier-Schwab fragen, die vier Söhne hat und Familienrichterin beim Amtsgericht Wilhelmshaven ist. Sie hat mit Marcs Fall nichts zu tun, aber mit dem, was dahintersteht. Sieben, acht Mal im Jahr, erzählt sie, sitzen Mütter vor ihr, die das Sorgerecht für ihre Jungen abgeben wollen. Sie sagen, sie können nicht mehr gewährleisten, dass die Söhne nicht andere gefährden. Oft alleinstehende Mütter, mit vielen Kindern von vielen Männern. Sitzen die Jungs bei Meunier-Schwab, weinen sie oft, aber sie kennt die Akten, in denen steht, was sie getan haben. Was sind die Ursachen? "Das Furchtbare ist", sagt Meunier-Schwab, "dass es die eigentlich nicht gibt."
Sie fragt sich manchmal, ob in jedem Menschen diese Aggression steckt, die irgendwann ausbricht, wenn man ihr keine Grenzen setzt, wenn man sie nicht mit Werten einhegt. Der Vorteil von Wilhelmshaven, sagt die Richterin: dass die Verfahren sich nicht so lange hinziehen wie in Großstädten. Es ist eine Hoffnung, die Manuela Wilkens anfangs noch hat. Schnelles Urteil. Abschließen. Sieben Tage nach der Tat vernimmt die Kommissarin Marc. Er nimmt da noch starke Schmerzmittel und kann sein linkes Bein nicht heben. Marc erzählt, woran er sich erinnert, woran sich 16 Tage nach der Tat auch sein Kumpel Batu erinnern wird, der dabei war: Sie sind auf dem Weg zum See und laufen durch eine Fußgängerunterführung, als jemand ruft. Marc dreht sich um und erkennt die zwei Typen.
Er hatte beide schon auf Facebook gesehen, der eine wollte ihn angeblich fertigmachen, vielleicht, weil er was von Marcs damaliger Freundin wollte. "Warum machst du immer so nen Lauten?", hat der Typ Marc mal gefragt, als sie sich über den Weg liefen. "Was willst du denn, du Klappstuhl", hat Marc geantwortet. "Verpiss dich, du Missgeburt", hat der Typ gesagt. Marc ist gegangen. Und dann, an diesem heißen Samstag, steht der wieder vor ihm und hat dieses Messer in der Hand. "Das machst du eh nicht", sagt Marc. Vielleicht ist das der Fehler.
"Urtriebe", sagt die Familienrichterin, wenn sie von solchen Fällen spricht. "Eine unkontrollierte, instinktgeleitete Brutalität." Manchmal habe man den Eindruck, die Täter versuchen, eine fast notwehrähnliche Situation zu provozieren. Damit sie zuschlagen können. Es ist nicht mehr geworden, nicht brutaler, sagen die Statistiken der Polizei. In den vergangenen Jahren ist die Jugendgewalt sogar zurückgegangen. Aber es gibt diese Jungen, die nie Empathie gelernt haben, die irgendwann explodieren. Wer kümmert sich um sie? "Da gibt es ganz wenig Infrastruktur", sagt Meunier-Schwab. Marcs Mutter will sich eigentlich nicht dafür interessieren, was mit den beiden Typen passiert. Aber sie hört im Dartverein, dass die Mutter des einen verprügelt worden sei, von dem anderen, weil sie die Polizei unterstützt hat. Dass ihr Wohnort jetzt geheim sei. Die Frau hat Manuela Wilkens einen Brief geschrieben. Von Mutter zu Mutter. Eine Entschuldigung. "Ich kann mir selbst nicht erklären, wie er zu so etwas fähig sein konnte." Ihr Sohn. Sie hat ihn rausgeschmissen. Er ist in eine betreute Einrichtung gezogen.
Sie hören auch danach nicht auf, Marc zu bedrohen – über SchülerVZ, Facebook. Marcs Anwalt fordert einen der Zwei schriftlich auf, das zu lassen, und verlangt 500 Euro Schmerzensgeld. Die Täter beginnen, sich wegen eines Mädchens zu streiten. Der eine postet: "das war ein messer und das messer hast du weggeworfenn." Er droht dem anderen: "aber du wierst so leiden". Und dessen Mutter, "diese pychopaten hurentante die kriegt ersmal n backstein durchs fesnter." Marcs Anwalt sagt: Es lag eine Tötungsabsicht vor. Er beantragt, dass der Fall vor dem Landgericht verhandelt wird. Dann könnte Marc als Nebenkläger auftreten. Er und seine Familie suchen Genugtuung und sie glauben, dass sie sie in einem Urteil finden können. Während sie auf den Gerichtstermin wartet, zweifelt Manuela Wilkens, ob sie ihrem Sohn immer das Richtige geraten hat: Halt dich raus. Sie fragt sich, ob es nicht doch besser wäre, zuzuschlagen. Als Erster.
Ende November befindet die Staatsanwaltschaft: "Konkrete Hinweise auf eine Tötungsabsicht liegen nicht vor." Der Fall geht ans Amtsgericht in Wilhelmshaven. Die Anklage lautet: gefährliche Körperverletzung. Vor dem Amtsgericht kann Marc kein Nebenkläger werden. Manuela Wilkens fürchtet, dass der Täter nur zu einem Antiaggressionstraining verurteilt wird. Die Justiz hat sie enttäuscht. Sie können nur zusehen, wie der Täter bestraft wird. Marc ist Zeuge, kein Kläger.
"Wir sind so traurig. Es ist so unglaublich, wie man alleingelassen wird", sagt Manuela Wilkens. Doch es ist juristisch nichts falsch gelaufen. Man braucht nicht nach mehr Härte im Jugendstrafrecht fragen, da sind sich viele Experten einig. Das Jugendstrafrecht ist in den vergangenen Jahren härter geworden. Die Unionsfraktion und die FDP wollen die "jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten" noch einmal erweitern, obwohl auch sie feststellen, dass die Zahl der tatverdächtigen Jugendlichen deutlich sinke. Werden junge Menschen verurteilt, geht es um Resozialisierung – und um Vergeltung. Sie sollen wieder in dieser Gesellschaft leben können, ohne anderen zu schaden. Und die Geschädigten sollen das Gefühl haben, es wird auch was getan, für sie. Vergeltung ist ein Strafzweck. "Im Jugendstrafrecht dagegen", sagt der Juraprofessor Henning Ernst Müller, "stellt das Gesetz die Erziehung und die Resozialisierung in den Vordergrund."
Kann man Urtriebe mit Gesetzen bändigen? Aus Sicht der Gesellschaft ergibt es Sinn. Es ist die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen den Interessen der Gesellschaft, des Täters, des Opfers. Im Strafverfahren geht es in erster Linie um die Gesellschaft. In einem Zivilverfahren, das folgen könnte, geht es um das Leid des Opfers, um Schadensersatz.
Richterin Schwab-Meunier kennt den Wert der Vergeltung. Sie erinnert sich an einen Bekannten, der ins Gesicht geschlagen worden war. Das Strafverfahren wurde eingestellt. Aber im Zivilprozess, der folgte, sah das Opfer, wie der Täter zu Schmerzensgeld verurteilt wurde. "Der kam raus wie ein neuer Mensch", sagt sie, "Das ist ganz seltsam, diese Genugtuung, die eine juristische Sanktion bringt."
Manches ist besser geworden. Gar nicht wegen der Gerichte, auch nicht unbedingt wegen dieses Termins, den es nun gibt. Der, je näher er rückt, Manuela Wilkens immer egaler wird. Marc redet wieder mit seinen Eltern. Seine Schwester hat ihm ihr Pfefferspray geschenkt, gegen die Angst auf der Straße. Irgendwie, sagt Manuela Wilkens, sind sie durch die Sache auch zusammengerückt, als Familie. Es wird besser, aber es wird dauern. Manchmal, wenn Manuela Wilkens eine Sirene hört, ruft sie bei Marc an. Wenn er nicht rangeht, wächst ihre Angst.
Manuela Wilkens hat versucht, die Angst wegzutrinken. Dann ist sie zu den Eltern des Typen, der Marc festgehalten hat damals, und hat sie beschimpft. Was sie dafür könne, wenn ihr Sohn so etwas macht, hat die Mutter gefragt. Manuela Wilkens ist noch wütender geworden. Am nächsten Tag hat sie sich entschuldigt. Man müsse zu dem stehen, was man getan hat, so bringt sie das ihren Kindern bei. "Man ist doch verantwortlich", sagt sie. "Wer, wenn nicht die Eltern?"
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